SCHUL-EXPERTE GLATTAUER

"Was tun mit Tausenden syrischen Kindern? Mein Vorschlag"

Durch Familiennachzug werden wir bald Zigtausend neue Schulkinder haben. Niki Glattauer sagt: Lasst sie erst in unsere Klassen, wenn sie Deutsch können – und unsere Regeln kennen.

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Die gute Nachricht: Es tut sich endlich was. Vor allem in Wien. Schulzubauten, jetzt 45 mobile Klassen in so genannten "Containern", später Hunderte neue Klassen, 70 bis 2028 allein in Favoriten. Die schlechte Nachricht: All das kommt zu spät. Im Gebälk unserer Schulen knirscht es nicht nur, es ist gerade am Einstürzen.

8.000 Neue schon jetzt In der Verwaltung spricht man von "grob 8.000 Schülerinnen"*, die innerhalb des letzten Jahres durch Flucht oder Vertreibung in Österreich gelandet und damit in unser Bildungssystem "gedrungen" sind, 90 Prozent von ihnen in Wien. Durch Familiennachzug kommen zurzeit Monat für Monat zwischen 100 und 300 Kinder dazu.

14.000 auf der Warteliste Auf der Warteliste für ein Bleiberecht durch Familiennachzug stehen derzeit knapp 13.000 Syrerinnen (zwei Drittel davon sind Kinder unter 14), 400 Afghaninnen, und 300 Somali.  Zu 100 Prozent ohne Deutschkenntnisse, zu 75 Prozent ohne das, was wir Grundbildung nennen, zu 50 Prozent aus kulturell und religiös, nennen wir es: wenig kompatiblen Kulturen – das kann unsere Schule, so, wie sie aufgestellt ist, ohne Niveauverlust nicht mehr stemmen.

Niki Glattauer ist als ehemaliger Schuldirektor in Wien Experte in Bildungsfragen
Niki Glattauer ist als ehemaliger Schuldirektor in Wien Experte in Bildungsfragen
Sabine Hertel

Aus dem letzten Loch Nicht, weil die Neuankömmlinge per se zu viele wären – in einem gesunden, gut aufgestellten Schulsystem wären 10.000, ja 20.000 "Neue" bei insgesamt grob 1,15 Millionen Schülern durchaus integrierbar – , aber in unseren Schulen, vor allem jenen in den städtischen Ballungsräumen, pfeift man schon seit Jahren aus dem letzten Loch.

Unterricht im Arzt-Zimmer Neue Containerklassen z. B. hätten wir in Wien sowieso gebraucht, auch ohne Familiennachzug. Jeder, der sich auskennt, weiß, dass die meisten Wiener Schulen (alt, denkmalgeschützt, mit Kasernenarchitektur und nicht zeitgemäßer Raumaufteilung) aus allen Nähten platzen. Kinder werden auf dem Gang und in Räumen unterrichtet, die nicht als Klassen "gewidmet" sind und demnach auch keine sein dürften, z. B. aus Gründen des Brandschutzes. Ich kenne Schulen, da sitzen Gruppen in der Größe halber Klassen im Arztzimmer, im Zimmer der Beratungslehrerin, in Integrations- oder Auszeit-Kammerln, in Speiseräumen und Turnsälen.

Dann können wir zusperren Mir hat einmal ein (damals noch) Bezirksschulinspektor gesagt: "Wir warten nur darauf, dass das jemand anzeigt. Dann können wir zusperren." Jetzt kommt man mit Containerklassen und erklärt deren Notwendigkeit – um Versäumnisse zu kaschieren – mit dem Ukraine-Krieg und den Familiennachzüglern. Vergeblich. Der Ärger der Eltern richtet sich längst gegen die Schulpolitik und die Schulbehörde.

Wächst der Turnsaal auch um zwei Drittel?  Das Mail eines "enttäuschten und verärgerten" Vaters an mich - ich darf seinen Namen nennen: Markus Unger – ist symptomatisch. Sein Kind geht in eine Volksschule in Wien-Floridsdorf, die durch Containerklassen um drei Viertel "vergrößert" werden soll. "Werden Turnsaal und Speisesaal etc. in den nächsten Monaten auch von allein größer?", fragt er mit viel Sarkasmus, und setzt nach: „Es gilt als pädagogisch falsch, Klassen von 25 Schülern auf 29, sprich um 15 Prozent zu vergrößern, aber einige wenige Schulstandorte um 75 Prozent zu erweitern - das soll im Sinne der städtischen Bildungsoffensive sein?

Viele Kinder zusätzlich: Wächst der Turnsaal auch um zwei Drittel?
Viele Kinder zusätzlich: Wächst der Turnsaal auch um zwei Drittel?
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Absoluter Kontrollverlust Es handle sich seiner und der Meinung anderer betroffener Eltern nach "um das Geständnis des absoluten Kontrollverlusts. Diese 'Lösung' ist ein Abwälzen auf hilflose Kinder und Lehrer:innen". Und weil wir schon bei diesen sind, hier aus dem Mail einer Kollegin, ebenfalls aus Wien: "Allein an unserer Schule kamen seit November ca. 40 syrische Kinder. Ich verfolge nicht mehr, ob noch weitere dazu kommen sollen. Wir konnten die Deutsch-Förderklassen Gott sei Dank teilen, da wir eine zweite Lehrerin bekommen haben. Teilweise gibt es mit diesen Kindern auch große Probleme …"

Das ist uns egal Und weiter: "Als wir der Schülerstromlenkung mitteilten, wir hätten keinen Platz mehr, kam als Antwort, das sei ihnen egal, wir sollten sie halt in die regulären Klassen setzen. In diesen übervollen Klassen sitzen aber schon, neben teilweise schwierigen Kindern, auch die nur 'mangelhaft' Deutsch sprechenden Deutschkurs-Kinder. Wir haben daher den 'guten Rat' nicht umgesetzt."

Mission Impossible Mit dem Ergebnis, dass an dieser Volksschule jetzt in zwei Klassen wohl mehr als 20 null Deutsch sprechende und daher "außerordentliche" Kinder aus Syrien, Afghanistan & Co. von je einer Deutschförderklassen-Lehrerin, die allein in der Klasse steht, binnen ein, zwei Schuljahren zu "ordentlichen" Schülern gemacht werden sollen, dann fähig, eine MS oder gar AHS zu besuchen. Die Quadratur des Kreises! Unmöglich!

Demo gegen Containerklassen in der Schule Rittingergasse 29a in Wien-Floridsdorf
Demo gegen Containerklassen in der Schule Rittingergasse 29a in Wien-Floridsdorf
Sabine Hertel

Ich halte die Situation für dramatisch und orte drei Kernprobleme:
1. Das Versagen unserer Integrationspolitik, das sich in den Schulen manifestiert (darüber in diesem Text gleich mehr).

2. Den dramatischen Lehrerinnen-Mangel, der daraus resultiert, dass auf Grund der zunehmend unerträglichen Zustände zu viele aus- und umsteigen, erst gar nicht einsteigen und wenn, dann nur als Teilzeit-Kraft. Nach einer parlamentarischen Anfrage der NEOS – deren Bildungssprecherin Martina Künsberg-Sarre unermüdlich den Finger in die Wunden der Schulpolitik legt – musste Minister Polaschek bekennen, dass ein Drittel unserer Lehrerinnen nur zehn bis maximal 18 Stunden pro Woche (!) in der Klasse steht, in Tirol ist es fast jede Zweite, in Oberösterreich, Niederösterreich und Wien sind es 40 Prozent. Würden die alle Vollzeit arbeiten, hätten wir im Handumdrehen keinen Lehrermangel mehr.

3. Die fehlende Schulautonomie, die Beamte in fernen Bildungsdirektionen zu pädagogischen Leitungen macht, die Direktorinnen vor Ort aber zu Sekretärinnen. In Wahrheit müssten – umgekehrt – die Bildungsdirektionen zu Sekretariaten der Schulen werden, und die pädagogisch nötigen Schritte von den Schulleitungen vor Ort gesetzt werden. Mit eigenen Profilen, abhängig von Lage, Schultyp, Klientel und selbst gesetzten Schwerpunkten. Erst dann, und nur dann, werden sich Lehrerinnen entfalten und engagieren - das Um und Auf eines qualitativ hochwertigen Unterrichts.

Zum Integrationsversagen am Beispiel Ramadan Jetzt bin ich wahrlich kein Feind des Islam, und am ersten Tag des Zuckerfestes, dem 10. April, ging ich in meinem Gemeindebau in Favoriten zu den Nachbarn über mir, bekennenden Moslems, um ihnen Süßigkeiten zu bringen – Mozartkugeln für die Eltern, gezuckerte Geleespalten für den Fortpflanz. Zwei Stunden später stand die türkische Mama mit einem Teller selbstgemachter Köstlichkeiten – gefüllte Weinblätter bis Baklava – strahlend vor meiner Tür, so sehr hat sie sich über meinen Respekt vor ihrem höchsten Feiertag des Jahres gefreut.

Warum in Allahs Namen? Nur, und jetzt kommt's: Warum, in Gottes oder Allahs Namen, gewährt die Schulbehörde muslimischen Kindern am Ende des Ramadan bis zu drei Tage schulfrei?  S c h u l f r e i!  Eine Direktorin aus Wien klagt mir: "Im Schnitt haben wir an diesen drei Tagen sechs Kinder in den Klassen sitzen gehabt. Erklär diesen einmal, warum sie kommen mussten und ihre muslimischen Mitschüler zu Hause bleiben durften, während an den christlichen Feiertagen wie Weihnachten, Ostern, Pfingsten, natürlich alle gleichzeitig frei haben, auch die Moslems."

Respekt vor Religionen ja, aber warum gewährt die Schulbehörde muslimischen Kindern am Ende des Ramadans bis zu drei Tage zusätzlich schulfrei?
Respekt vor Religionen ja, aber warum gewährt die Schulbehörde muslimischen Kindern am Ende des Ramadans bis zu drei Tage zusätzlich schulfrei?
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Zu sehr "willkommen"? Der islam-kritische ägyptische Politikwissenschafter Hamed Abdel-Samad sprach jüngst in einer Diskussionsrunde in "Servus TV", zu der auch ich geladen war ("Talk im Hangar 7", 11. 4., nachzusehen in der Mediathek), sinngemäß von einem fehlgeleiteten "Multikulturalismus". Dabei werde mangelnde Willkommenskultur durch einen Teil der Gesellschaft von anderen, oft staatlichen Institutionen, überkompensiert, überspitzt formuliert: man mache aus falsch verstandenem "Entgegenkommen" an Zuwanderer immer mehr Zugeständnisse, statt Anpassung einzufordern. Damit sorge man punkto Integration für mehr Schaden als Nutzen.

Und verärgert im Mikrokosmos Schule Mitschüler, Eltern, Lehrerinnen, die seit Jahren das Gefühl haben, ihren gelernten Job nicht mehr ausüben zu können. Bei oben genanntem Ramadan-Beispiel geht es nämlich nicht primär um Feiertags-Neid. Es geht um den Unterricht, die Kernaufgabe von Schule. "Ein regulärer Unterricht mit neuem Stoff ist bei sechs anwesenden Kindern sinnlos", das wären leere Kilometer, erklärt die Direktorin.

Niemand lernt Stoff nach Die vielen Freigestellten würden den versäumten Stoff nämlich nicht nachlernen, ein Nacherlernen nach Fehlen gebe es in den MS "schon lange nicht mehr". Also passe sich die Lehrerin den gegebenen Umständen an und mache drei Tage eben keinen adäquaten Unterricht. Das beste Beispiel dafür, dass und warum in städtischen Mittelschulklassen Leistung keine Kategorie mehr ist.

Ist es also eine Lösung, den Familiennachzug zu stoppen, wie das medienwirksam von einigen gefordert wird? Antwort: Nein.

Positiv Erstens ist es (menschen-)rechtlich gar nicht möglich. Es wäre auch kontraproduktiv, denn dass die in Österreich lebenden syrischen und afghanischen jungen Männer ihre Frauen und Kinder "nachkriegen", kann sich gesamtgesellschaftlich nur positiv auswirken.

Negativ Zweitens brächte es auch nichts. Denn das wahre Integrationsproblem in unseren Schulen sind nicht die 10.000 oder 20.000 "neuen" Familiennachzügler, sondern dass wir schon mit den "alten"– zuwandernd seit Jahrzehnten aus der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien, Afghanistan, Syrien – seit Jahrzehnten falsch umgehen.

Bildungsminister Martin Polaschek in der Wiener Hans-Christian-Andersen Volksschule
Bildungsminister Martin Polaschek in der Wiener Hans-Christian-Andersen Volksschule
Helmut Graf

50.000 Kinder brauchen Deutschförderung Wir sorgen nicht dafür, dass sie Deutsch lernen und es auch einigermaßen beherrschen,  b e v o r  sie in den regulären Schulbetrieb einsteigen, mit dem Ergebnis, dass aktuell fast 50.000 Kinder, rund 18.000 davon in Wien, schulische Deutschfördermaßnahmen innerhalb ganz normaler Schulen brauchen; wir sorgen nicht dafür, dass sie mit ihren Familien unsere Werte übernehmen, internalisieren und später auch kritisch hinterfragen dürfen (etwa durch Teilnahme an Volksbefragungen oder auch Wahlen), mit dem Ergebnis, dass Tausende Kinder in Parallelgesellschaften auf- und gleichzeitig untergehen;

Ali sagt Mami In Wien gibt es jetzt – neu! – seit Ostern drei sogenannte "Orientierungsklassen". Das sind Klassen, in denen (ausschließlich syrische) Kinder ohne jede Schulerfahrung a) psychosoziale Hilfe bekommen und b) Deutsch lernen – unterrichtet aber wieder von ausgebildeten Lehrerinnen, die anderswo fehlen. Warum, frage ich, braucht es für die ersten sprachliche Basics a la "Anna sagt Mama" (oder meinetwegen Ali sagt Mami) universitär ausgebildete Deutsch-Lehrerinnen, die nach vielen Jahren Studium zum Frühwerk Elfriede Jelineks oder der Dichtkunst des Spätmittelalters promoviert haben?

Deutschkurs nach der Schule Warum – so der Vorschlag einer "Servus-TV"-Journalistin, die selbst fünf Kinder hat und 2015 einen syrischen Flüchtling als Paten aufgenommen hatte – zugewanderte Kinder zum Start nicht zuerst einmal in die Regeln unseres gesellschaftlichen Lebens einführen – Stichwort Wertekanon – , und zwar außerhalb der Schulen und durch pädagogische "Zivilisten", für die ein Crash-Kurs reicht? Nebenbei müssten die Kinder Deutsch-Intensiv-Kurse belegen, nicht  i n  der Schule, sondern zusätzlich zu, sagen wir, drei bis vier Stunden in der Schule. Danach. An den Nachmittagen. Etwa in Volkshochschulen, denn das ist die Bringschuld von Migranten: Unsere Umgangssprache zu erlernen und Österreich kennenzulernen, in all seinen Facetten, nicht nur der des Maibaumaufstellens.

Kann Wunder wirken: einfach hinsetzen und vorlesen
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Lehrerinnen wären wieder frei Auch dafür bräuchte es niemanden mit einem umfassenden universitären Deutsch-Lehramt. Hunderte Lehrerinnen, die jetzt durch Deutschförderklassen-, Deutschkurs- oder Orientierungsklassen-Schülerinnen gebunden sind, wären wieder frei, das zu tun, wofür sie sich mit ihren hochkomplexen Lehrämtern haben ausbilden lassen: in regulären Klassen elementarpädagogisch grundausgebildete Kinder zu unterrichten (nicht, ihnen Nachhilfe zu geben), die aus der Mitte der Gesellschaft kommen (mit den üblichen Ausschlägen nach oben und unten) und in der Mitte der Gesellschaft einst ihren Mann oder ihre Frau stehen wollen.

Herr Josef sagt es am besten Ich erinnere mich an die "Lesepaten", die ich im Zuge meines Lehrerdaseins kennengelernt habe. Menschen aus der so genannten "Boomer"-Generation, beruflich nicht mehr "proaktiv" – ich erinnere mich an einen Mediziner, einen Rechtsanwalt, eine Bankangestellte, einen Hochleistungssportler, eine ehemalige Schuldirektorin, ein früheres Lehrerinnen-Paar – , die ihren Unruhestand dafür genutzt haben, in sogenannten Brennpunktschulen mit Kindern einfach nur zu lesen. Einfach nur zu lesen? Ja, sie haben gelesen. Aber sie haben auch miteinander geredet, sich ausgetauscht, einander kennengelernt. Ich erinnere mich an ein afghanisches Mädchen, zehn Jahre alt, das mich einmal gefragt hat, welches Fach der "Herr Josef hat". Keines, habe ich gesagt, er sei nur für das Lesen da. Warum? - "Er erklärt es am besten."

* Männer sind bei Verwendung der weiblichen Mehrzahl-Form in diesem Text freundlich mitgemeint

Nikolaus "Niki" Glattauer, geboren 1959 in der Schweiz, lebt als Journalist und Autor in Wien. Er arbeitete von 1998 an 25 Jahre lang als Lehrer, zuletzt war er Direktor eines "Inklusiven Schulzentrums" in Wien-Meidling. Sein erstes Buch zum Thema Bildung, "Der engagierte Lehrer und seine Feinde", erschien 2010.

Akt. Uhr
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