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Männlichkeit 2025

Weltweite Aktion: Wieso Väter jetzt Briefe an ihre Söhne schreiben sollen

Die von ihm erdachte Netflix-Serie "Adolescence" erschütterte die Welt. Nun hat der Autor und Schauspieler Stephen Graham die Aktion "Letters to our sons" ins Leben gerufen. Er will, dass Väter und Söhne wieder miteinander reden. Was dahinter steckt.

Wie Vater und Sohn: Owen Cooper und Stephen Graham bei der Premiere von "Adolescence"
Wie Vater und Sohn: Owen Cooper und Stephen Graham bei der Premiere von "Adolescence"Getty Images for Netflix
Martin Kubesch
Akt. 16.10.2025 00:19 Uhr

Die Netflix-Serie "Adolescence" war die Streaming-Überraschung dieses Jahres. Die Geschichte über den Mord eines Jugendlichen an seiner Mitschülerin erschütterte diesen Frühling rund um den Globus Millionen Seher.

Und sie warf ein Schlaglicht auf eine Entwicklung, die bis dahin viel zu wenig bekannt war: Nämlich: Wie der Einfluss von Social Media aus der Orientierungslosigkeit von Burschen in der Pubertät schnurstracks zu falschen Männlichkeits-Idealen und radikalem Frauenhass führt – Stichwort "Manosphere".

Nun greift einer der Schöpfer von "Adolescence" das Thema erneut auf. Der Autor und Schauspieler Stephen Graham ruft Männer auf der ganzen Welt dazu auf, Briefe an ihre Söhne zu schreiben und ihnen zu vermitteln, was es in der Welt von heute bedeutet, ein Mann zu sein. Graham, der in der Serie den Vater des Mörders spielt, ist im wahren Leben selbst Vater eines Sohnes und einer Tochter.

Die interessantesten Briefe von Vätern an ihre Söhne sollen dann nächstes Jahr in einem Buch veröffentlicht werden, zusammen mit Beiträgen von Graham und weiteren Prominenten. Auf diese Weise, so die Initiatoren der Aktion, soll langfristig eine soziale und kulturelle Gegenbewegung entstehen zur immer öfter destruktiven und frauenverachtenden Social Media-Kultur.

Wie man bei der Brief-Aktion des "Adolescence"-Schöpfers mitmachen kann, warum sich diese toxische Männlichkeits-Kultur auf Social Media überhaupt entwickeln konnte und woran Eltern erkennen können, ob sich ihre Söhne zu Frauenhassern entwickeln – das müssen Sie über die Brief-Aktion des "Adolescence"-Schöpfers und übersteigerten Männlichkeitswahn im Netz wissen:

Stephen Graham als Eddie Miller und Owen Cooper als sein Sohn Jamie, der eine Mitschülerin ermordet haben soll: "Adolescence" ist die zweiterfolgreichste englischsprachige Netflix-Serie aller Zeiten
Stephen Graham als Eddie Miller und Owen Cooper als sein Sohn Jamie, der eine Mitschülerin ermordet haben soll: "Adolescence" ist die zweiterfolgreichste englischsprachige Netflix-Serie aller Zeiten
Courtesy of Netflix

Worum geht es hier?
Die Netflix-Erfolgsserie "Adolescence", die im März dieses Jahres veröffentlicht wurde, thematisierte auf bislang nicht gekannte Weise die negativen Einflüsse von Social Media auf die Entwicklung von jungen Burschen in der Pubertät. Nach dem weltweiten Erfolg der Serie wollen deren Macher nun diesen Boost nutzen und mit einer Brief-Aktion die zunehmende Kluft zwischen Vätern und ihren Söhnen schließen und gleichzeitig ein neues Bild davon zeichnen, was Männlichkeit heutzutage bedeuten kann und soll.

Was ist der Inhalt von "Adolescence"?
Die vierteilige britische Serie handelt vom Mord eines 13-jährigen Burschen an seiner Mitschülerin und versucht zu rekonstruieren, wie es dazu kommen konnte. Nur langsam ergibt sich das Bild verirrter Jugendlicher, die von Eltern und Umwelt mit ihren Fragen, Gefühlen und Ängsten in der Pubertät alleine gelassen werden und nur auf Social Media Ansprache, Verständnis und Anleitung finden.

Weshalb kommt es dann zu dem Mord?
Weil der Bursche in der Serie – sein Name ist Jamie Miller und gespielt wird er erschreckend gut vom jungen Briten Owen Cooper – im Internet zwar Ansprache findet, aber sich dort zunehmend in einer Welt von falsch verstandener Männlichkeit, Frauenhass und Aggression als Lösungsmittel für Probleme mit dem anderen Geschlecht verirrt.

Wo bleiben seine Eltern?
Sein Vater Eddie, gespielt von Stephen Graham, hat selbst nie gelernt, was verantwortungsvolle Männlichkeit ausmacht. Er markiert daheim den starken Mann, ist gleichzeitig im wahren Leben einer der sozial Abgehängten, und lebt seinem halbwüchsigen Sohn überkommene Macho-Werte vor. Dagegen kann sich Jamies Mutter Manda kaum zur Wehr setzen, kennt sie es doch selbst nicht anders.

Bei der diesjährigen Emmy-Verleihung markierte Autor und Schauspieler Stephen Graham den wilden Mann, in Wahrheit ist er aber ein ganz Lieber
Bei der diesjährigen Emmy-Verleihung markierte Autor und Schauspieler Stephen Graham den wilden Mann, in Wahrheit ist er aber ein ganz Lieber
Lisa O'Connor / AP / picturedesk.com

Wie erfolgreich ist die Serie?
Der Erfolg von "Adolescence" übertraf sämtliche Erwartungen. Bei Netflix landete sie sofort auf Platz 1 der Seher-Charts weltweit und gilt inzwischen als zweit-erfolgreichste englischsprachige Netflix-Produktion aller Zeiten, mit 142 Millionen Abrufen. Nur die Gothic-Serie "Wednesday" aus dem Universum der Addams Family ist noch erfolgreicher. Bei der diesjährigen Verleihung der Emmy Awards (das sind die Oscars der TV- und Streaming-Branche) erhielt "Adolescence insgesamt neun Auszeichnungen, einer ging auch an Stephen Graham.

Weshalb dieser weltweite Erfolg?
Weil "Adolescence" den Finger in eine Wunde gelegt hat, von der viele Menschen spürten, dass sie da ist, die aber bis dahin noch nie so explizit und breitenwirksam thematisiert worden ist.

Welche "Wunde" ist damit gemeint?
Es geht um den zerstörerischen Einfluss, den zahlreiche Akteure vor allem auf Social Media auf die soziale Entwicklung von Burschen und jungen Männern ausüben. Und damit einer Generation ein Männlichkeitsbild vermitteln, das nicht nur rückwärts gewandt ist, sondern vor allem auch Frauen als Feindbilder darstellen, denen nur mir Verachtung, Aggression und Hass beizukommen ist.

Okay, und weshalb sollen jetzt Väter ihren Söhnen Briefe schreiben?
Einer der wichtigsten Faktoren dafür, dass sich so viele junge Burschen in ihrer pubertären Unsicherheit alleine gelassen fühlen und im Internet nach Ansprache und Feedback suchen ist, dass sie tatsächlich alleine gelassen werden. Die Abwesenheit – tatsächlich oder emotional – männlicher Vorbilder ist laut Psychologen hauptverantwortlich für die zunehmende Unsicherheit unter Burschen.

Und weiter?
Auf den Punkt gebracht: Väter sind zu wenig präsent und reden zu wenig mit ihren Söhnen. Vor allem über die relevanten Dinge im Leben. Das war wahrscheinlich schon immer so, fällt aber heute mehr auf, weil die Kluft zwischen Ansprüchen, Erwartungshaltung und Realität klarer zu sehen ist. Dem will "Adolescence"-Star Stephen Graham mit der Aktion "Letters to our sons" etwas entgegensetzen.

Worum geht es bei "Letters to our sons"?
"Es gibt wohl eine größere Kluft zwischen Vätern und Söhnen als je zuvor", sagte Stephen Graham bei der Präsentation des Projekts. "Wir möchten von Männern jeden Alters hören, von Erstvätern, von abwesenden Vätern, von Vätern, die zwar da waren, aber nie wirklich da waren, von Vätern, die einen Vater verloren haben, und von Vätern, die einfach nur einen Weg finden wollen, 'Ich liebe dich' zu sagen, ihren Söhnen zu sagen, was sie ihnen bedeuten, und darüber zu sprechen, was es bedeutet, ein Mann zu sein" so Graham im Guardian.

Wie soll das ablaufen?
Gemeinsam mit der Psychologin Orly Klein ruft Stephen Graham Männer auf der ganzen Welt dazu auf, ihren Söhnen einen Brief zu schreiben. Kernbotschaft: Was bedeutet es, ein Mann zu sein? "Wir möchten, dass Sie Ihrem Sohn einen Brief schreiben, in dem Sie ihm sagen, was Sie gerne gewusst hätten, als Sie jünger waren, welchen Rat Sie ihm geben möchten, und was Ihrer Meinung nach einen Mann ausmachen sollte", so Graham.

Was, wenn man gar keinen Sohn hat, aber dennoch einen Brief schreiben möchte?
Auch wenn sich Graham und Klein explizit an Väter jeden Alters wenden: Jeder konstruktive Brief von Männern ist willkommen, ob er sich nun an eine reale Person richtet oder nicht, sollte dabei eher nebensächlich sein. Es geht in erster Linie drum, was drinnen steht – und wie inspirierend der Inhalt des Briefes ist.

Die Psychologin Briony (Erin Doherty) kommt in "Adolescence" langsam dahinter, wo sich Jamie (Owen Cooper) so sehr radikalisiert haben könnte
Die Psychologin Briony (Erin Doherty) kommt in "Adolescence" langsam dahinter, wo sich Jamie (Owen Cooper) so sehr radikalisiert haben könnte
Courtesy of Netflix

Wie kann man dabei mitmachen?
Wer mitmachen will, kann ab heute bis zum 12. Jänner 2026 seinen Brief über die Homepage der Aktion einreichen. Die interessantesten Briefe sollen dann, gemeinsam mit weiteren Beiträgen, in einem Buch abgedruckt werden, das im Herbst 2026 veröffentlicht wird.

Was wollen die Macher damit erreichen?
"Nach der Pubertät wurde mir klar, wie wenig Raum Vätern und Söhnen oft bleibt, um offen darüber zu sprechen, was es heute bedeutet, ein Mann zu sein", erklärt Graham seine Motivation. Und die Psychologin Orly Klein, die die Idee zu der Aktion hatte, ergänzt: "Als mein eigener Sohn 13 Jahre alt wurde, bat ich meine männlichen Freunde, ihm Briefe mit Ratschlägen zum Erwachsenwerden zu schreiben." Das soll mit "Letters to our sons" nun auf globaler Ebene wiederholt werden.

Wer ist Stephen Graham?
Der 52-jährige Schauspieler wurde mit dem Guy Ritchie-Film "Snatch – Schweine und Diamanten" bekannt, nach Rollen in "Gangs of New York", "This is England" oder "The Dammned United" ist er vor allem auf Rollen harter, grob geschnitzter Machos abonniert – so auch in "Adolescence". Als Jamies Vater Eddie, ein Handwerker aus der Arbeiterklasse, versteht er erst ein Jahr nach dem Mord seines Sohnes, dass er ihn in der sensibelsten Phase seines Lebens alleine gelassen hat.

Was war sein Beitrag zu "Adolescence"?
Neben der Rolle als Jamies Vater, hat Stephen Graham auch zur Entstehung der Serie entscheidend beigetragen. Er kreierte "Adolescence" gemeinsam mit dem Autor Jack Thorne und schrieb mit ihm auch das Drehbuch. Inspiriert wurden sie durch die Morde an zwei Teenager-Mädchen in England Anfang der 2020er-Jahre. Wie sich herausstellte, waren die Täter zuvor in den sozialen Medien von jener "Manosphere"-Kultur beeinflusst worden, die Frauenhass propagiert und dadurch zur Radikalisierung junger Männer beiträgt.

Erst nach vielen Monaten erkennen Jamies Eltern Manda (Christine Tremarco) und Eddie, wie wenig sie über das Leben ihres Sohnes eigentlich wussten
Erst nach vielen Monaten erkennen Jamies Eltern Manda (Christine Tremarco) und Eddie, wie wenig sie über das Leben ihres Sohnes eigentlich wussten
Courtesy of Ben Blackall/Netflix

Was ist mit "Manosphere" gemeint?
Der Begriff entstand in den 2010er-Jahren auf Social Media und heißt auf Deutsch "Männer-Sphäre". Ursprünglich ging es dabei um Selbsthilfe und Identitätssuche von Männern in einer Zeit, in der traditionelle Rollenbilder im Wandel waren. Doch viele dieser Räume radikalisierten sich zunehmend und wurden zu einem Hort, in dem Verachtung, Unverständnis und Feindschaft regieren.

Was hat sich daraus entwickelt?
Mittlerweile ist die "Manosphere" ein Sammelbecken für unzählige Spielarten der "Männerbewegung", von Aufriss-Tipps und dem Austausch von Frauen-Witzen bis hin zu Männerrechts-Aktivismus. Verbindende Elemente sind fast immer Frauenfeindlichkeit, Hass gegen jede Art von Feminismus sowie die Vorstellung, das Männer von Feministinnen und anderen "woken" Personen zu Opfern gemacht und in einer "gynozentrischen Welt" zunehmend benachteiligt werden – etwa wenn Frauen selbst entscheiden wollen, wen sie zum Partner nehmen und mit wem sie Sex haben wollen.

Aber dort wird doch nicht zum Mord aufgerufen, oder?
Nein, aber negative Gefühle gegenüber Frauen werden verstärkt, Aggression und Gewalt werden als Lösungsansätze diskutiert und es wird ein Umfeld geboten, in dem "man sich versteht", unter sich ist und bestärkt wird. Der vor allem bei jungen Männern extrem beliebte Ausdruck "Bruder" oder "Bro" für jeden anderen Mann hat seinen Ursprung in den Untiefen der "Manosphere".

Wie erkenne ich, ob mein Sohn in die "Manosphere" abzurutschen droht?
Es sind eine Vielzahl von Signalen: Er spricht zum Beispiel abwertend oder verächtlich von Mädchen oder Frauen, ist feindselig gegenüber feministischen Themen, verwendet Begriffe wie "Alpha" (ein dominanter, durchsetzungsstarker Mann), "Beta" (ein netter, sensibler, aber schwacher Mann, der ausgenutzt und dominiert wird), Chads" (der "perfekte" Mann – muskulös, attraktiv und sexuell erfolgreich) oder "Cucks" (ein weicher, feministischer Mann, dem Hörner aufgesetzt werden). Und Frauen werden oft nur mehr als "Bitches" (Schlampen) oder "Ho's" (von "Whore" für Hure) bezeichnet.

Vorbild für viele in der "Manosphere": der Brite Andrew Tate. Gegen den Ex-Kickboxer wird in Steuerangelegenheiten ermittelt, eine Frau wirft ihm sexuelle Gewalt vor
Vorbild für viele in der "Manosphere": der Brite Andrew Tate. Gegen den Ex-Kickboxer wird in Steuerangelegenheiten ermittelt, eine Frau wirft ihm sexuelle Gewalt vor
Vadim Ghirda / AP / picturedesk.com

Weitere Alarmzeichen?
Vor allem der Social Media-Konsum. YouTube, Reddit oder TikTok sind die bevorzugten Plattformen der Player in der "Manosphere". Oder das häufige Erwähnen bestimmter Vorbilder – der Brite Andrew Tate ist einer der meist geachteten "Alphas" in dieser Szene.

Wie reagiert man am besten, wenn der eigene Sohn in diese Sphären abdriftet?
Früh damit beginnen, das Gespräch zu suchen, ohne dabei belehrend oder anklagend zu sein, das führt nur zu Trotz. Besser: "Was schaust du da an? Warum gefällt dir das?" Außerdem: Empathie und kritisches Denken fördern, Medieninhalte auf Social Media hinterfragen. Und das Selbstwertgefühl stärken. Denn Burschen, die sich abgewertet oder unsicher fühlen, sind besonders anfällig für Hass-Ideologien. Loben Sie, wenn Ihr Sohn Verantwortungsgefühl, Kooperation und emotionale Stärke zeigt.

Und wenn das alles nichts hilft?
Professionelle Unterstützung suchen, etwa bei einem Jugendpsychologen. Oft ist das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern vorbelastet. Eine neutrale Person von außen kann sich dann leichter tun, zu dem jungen Menschen duechzudringen.

Martin Kubesch
Akt. 16.10.2025 00:19 Uhr