Zwei Grusel-Auftritte, danach hieß es: Feuer frei auf Thomas Gottschalk. Jetzt stellte sich heraus: Der TV-Star hat Krebs, muss starke Mittel nehmen. Der Vorgang beschämt seine Kritiker und legt den Finger auf eine Wunde: die neue Lust an öffentlichen Hinrichtungen.

Thomas Gottschalk war sichtlich nicht fit, als er bei der Bambi-Verleihung US-Star Cher mit wirren Worten einen Preis überreichte. Bei der Romy-Verleihung nun ein ähnliches Bild – ein gezeichneter Gottschalk bedankte sich mit schleppender Stimme für die Auszeichnung.
In Medien und auf Social Media wurden die Auftritte des Show-Dinos sogleich mit ätzender Häme und wilden Spekulationen, vereinzelt auch mit (vorgespielter?) Sorge quittiert. Die Botschaft an den 75-Jährigen war dabei meist die gleiche: Du bist reif für die Insel.
Am ersten Advent-Sonntag ging Gottschalk in die Offensive, um dem Treiben gegen ihn ein Ende zu setzen. Über Bild ließ er ausrichten, schwer an Krebs erkrankt zu sein, seine Performance zuletzt sei die Folge starker Schmerzmittel, Opiaten also.
Und plötzlich: Der Wind hat sich gedreht. Aus Häme wurde Mitgefühl, statt saurer Drops gibt es nun Zuckerwatte. Die "Gottschalk-Hater", die sich in den letzten Wochen in Online-Foren über ihn lustig gemacht haben, wurden beschämt.
Dazu mehren sich die Stimmen, die öffentlich Kritik an der medialen Behandlung Gottschalk und dessen mediale Kreuzigung grundsätzlich kritisieren. Am deutlichsten meldete sich am Montag der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg zu Wort.

"Erst Häme, dann Hashtag-Reue, sobald die Diagnose 'Krebs' im Raum steht", so seine Diagnose. Die Empörung kenne keine Schonfrist mehr, unsere Gesellschaft habe verlernt Maß zu halten und Milde walten zu lassen – und die Medien würden als Korrektiv versagen.
Gottschalks verunglückte Auftritte, die mediale Hetzjagd auf ihn, sein Krebs-Interview – und wie sich am Beispiel des Showmasters ein grundsätzliches Problem unserer Kommunikation offenbart – das sollten Sie über den Fall Gottschalk wissen:
Worum geht es?
Um zwei missglückte Auftritte der deutschen Show-Ikone Thomas Gottschalk – und in der Folge um eine medialen Hetzjagd auf den 75-jährigen TV-Veteranen, an deren – vorläufigem – Ende es nur Verlierer gibt.
Welche missglückten Auftritte?
Gottschalk trat am 13. November bei der Verleihung des deutschen Medienpreises Bambi als Laudator für die US-Sängerin Cher auf. Kurzfristig, wie er selbst später anmerkte, weil sich die 79-Jährige ihn gewünscht hätte. Doch Gottschalks Performance geriet völlig aus den Fugen. Er wirkte fahrig, desorientiert, hatte Hänger und brachte schließlich mit einem Sager das Publikum gegen sich auf.
Was sagte Gottschalk?
Er kündigte die Sängerin mit den Worten an, sie sei "die einzige Frau, die ich in meinem Leben ernst genommen habe" (siehe Video unten) – während seine zweite Ehefrau Karina mitten im Publikum saß. Dafür gab es in der Halle in München spontan Buh-Rufe für den Moderator und in der Folge einen gewaltigen Shitstorm im Internet und heftige Kritik in zahlreichen Medien.
So viel Kritik wegen eines Satzes?
In der Öffentlichkeit steht Gottschalk spätestens seit dem Herbst 2024 unter einem Chauvinismus-Generalverdacht. Der Ton, der früher in seinen Samstagabend-Shows funktionierte, wird heute von vielen als Provokation empfunden, egal ob es um Frauen, Ausländer oder generell die sich wandelnden Zeiten geht.
Weshalb Generalverdacht?
In seinem dritten Buch "Ungefiltert", dass vor ziemlich genau einem Jahr erschienen ist, vertritt Gottschalk zu einigen gesellschaftlichen Themen die klassischen Ansichten eines alten, weißen Mannes. Besonders übel genommen wurden ihm Sprüche über Political Correctness, vollkommen jenseitig waren Aussagen über Frauen (er habe sie "immer nur rein dienstlich angefasst …").
Die Folge des Bambi-Fauxpas?
In den sozialen Medien wurde sein Auftritt als peinlich empfunden, in den Kommentarspalten vieler Medien ebenso. In tausenden Kommentaren reagierten Menschen mit unverhohlenem Spott, Wut, Aggression. Auch, nachdem sich Gottschalk entschuldigte und seine Performance als "echt verwirrt" und sein Gerede als "dummes Zeug" bezeichnete, ließ die Kritik nicht nach.
Heißt was?
Gottschalk konnte sich entschuldigen und erklären, so viel er wollte – in der Bild sagte er etwa "ich bin über mich selbst erschrocken". Für die Social Media-Öffentlichkeit und zahlreiche Medien wurde der TV-Star ins Show-Grab geschrieben.
Was war der zweite Flop?
Am Freitag, dem 28. November, fand die Verleihung der Kurier-Romy in Kitzbühel statt. Gottschalk war als Stargast angekündigt, ihm sollte eine Diamant-Romy verliehen werden für sein Lebenswerk. Bereits im Vorfeld der Veranstaltung bebte das einschlägige Netz vor Erwartung, ob sich der 75-Jährige den nächsten Ausrutscher leisten würde – und so kam es dann auch.
Was geschah?
Gottschalk begann seine Dankesrede (Video im Link hier) flüssig und klar, verlor aber zusehends den Faden und wirkte immer desorientierter. Als ihm Moderator Hans Sigl ("Der Bergdoktor") schließlich zu Hilfe kam und ihm die Hand schüttelte, machte Gottschalk schließlich den Eindruck eines Menschen mit fortgeschrittener Demenz-Erkrankung: unbeweglich, steif, unsicher.

Wie beurteilte das Netz den Auftritt?
Etwas weniger gnadenlos als nach der Bambi-Verleihung – wohl auch, weil sich Gottschalk dieses Mal keinen "unkorrekten" Ausrutscher erlaubte –, dafür aber umso spekulativer. Journalisten und alle User, die sich dazu berufen fühlten, rieten wild drauf los, was denn zu diesem – mittlerweile für jeden sichtbaren – Verfall des einstigen Hünen beigetragen haben könnte.
Wann erklärte sich Gottschalk?
Am Sonntag darauf, und zwar zuerst gegenüber Bild. In einem Telefoninterview berichteten Gottschalk und Ehefrau Karina über den Gesundheitszustand des 75-Jährigen.
Und?
Gottschalk leidet an einer sehr seltenen und hoch aggressiven Form von Krebs, einem epitheloiden Angiosarkom. Dieser Krebs entsteht in den Blutgefäßen und kann überall im Körper auftreten. Bei dem Entertainer entwickelte er sich im Beckenbereich und hatte die Harnblase, die Harnleiter sowie Teiles des umlagernden Gewebes befallen. Es kommen in Deutschland nur 40 bis 50 Fälle pro Jahr vor.
Seit wann leidet der Moderator bereits daran?
Erkannt wurde die Krankheit laut Gottschalk im Sommer, im Juli wurden ihm in München in einer siebenstündigen Operation Teile der Blase und der Harnleiter entfernt. Bald darauf folgte eine zweite OP, da der Krebs bereits gestreut hatte und Teile des Gewebes rund um den Harntrakt befallen hatte. Dieses musste ebenfalls entfernt werden.
Wie ging es weiter?
Nach zwei Wochen durfte Gottschalk die Klinik verlassen – und stürzte sich sofort wieder ins Arbeitsleben, ohne Pause oder Schonung. "Das war rückblickend wohl mein größter Fehler", so der 75-Jährige gegenüber Bild. "Aber ich hatte fest zugesagte Engagements und Verträge, die ich erfüllen wollte."
Und das ging gut?
Zumindest eine gewisse Zeit. Regelmäßig fuhr er mit Ehefrau Karina – die 63-Jährige ist seit 2019 an Gottschalks Seite, seit 2024 sind die beiden verheiratet – nach München zur Strahlentherapie. Gottschalk erhielt insgesamt 33 Bestrahlungen. "Sie dient dazu, auch die kleinsten Tumorreste zu zerstören", so Gottschalks Chirurg Jürgen Erich Gschwend in Bild.

Und gegen die Schmerzen?
Muss Thomas Gottschalk starke Schmerzmittel nehmen. Diese sind, laut Karina Gottschalk, auf Opiat-Basis und sind verantwortlich für die letzten irritierenden Auftritte des Moderators. "Wir dachten, es geht ihm trotzdem gut damit. Zu Hause ist er wie immer. Witzig, frech, gut gelaunt. Erst bei der Bambi-Verleihung realisierten wir, welche Nebenwirkung diese Medikamente haben."
Was sagt Gottschalk selbst dazu?
"Ich war nicht darauf vorbereitet, dass mir jemals so etwas passieren könnte. Mit diesen Tabletten fühle ich mich, als würde ich mit meinem Kopf in einer Waschmaschine stecken", so der Moderator in Bild. "Ich kannte mich so selbst nicht."
Aber weshalb sagte er dann seinen Romy-Auftritt nicht ab?
"Dann wäre noch mehr Häme über mich hereingebrochen", so Gottschalk. "Außerdem bin ich alte Schule und erfülle meine Verpflichtungen. Ich hatte überlegt, die Medikamente vor dem Auftritt wegzulassen. Aber das haben mir die Ärzte verboten." Aber bei der Romy habe er gemerkt, dass es keinen Sinn habe: "Ich kann nicht mehr auftreten. Ich muss gesund werden."
Wie geht es jetzt mit Gottschalk weiter?
Er will sich nun völlig ins Privatleben zurückziehen, um Kraft zu tanken und wieder gesund zu werden. Alle acht bis zwölf Wochen muss er auf neue Tumoraktivitäten hin untersucht werden. Trotz der eher ungünstigen Prognose – für Angiosarkome liegt die Fünf-Jahres-Überlebensrate bei etwa 26 Prozent – setzen die Gottschalks dabei auch auf den optimistischen Lebenszugang des früheren Sunny Boy.
Was ist damit gemeint?
"Ich bin an Thomas' Diagnose fast zerbrochen", so Karina Gottschalk in Bild. Aber ihr Mann sei von Tag eins an positiv und sagt: "Das schaffen wir schon. Dadurch hat er mich inzwischen auch auf eine positive Ebene gebracht."
Wie reagierte das Netz auf die Enthüllung?
Mit einer 180-Grad-Wendung. Seit Bekanntwerden von Gottschalks Krebs-Diagnose wird der Entertainer online mit Sympathie- und Beistandskundgebungen förmlich überschüttet. Gleichzeitig werden jene "Hater", die sich zuvor hämisch über Gottschalk äußerten und ihn sinngemäß ins Altersheim posteten, mit einem Shitstorm niedergemacht.

Wer konkret?
Das reicht von "Alle sollten sich schämen"-Statements bis hin zu ganz gezielten Anwürfen. Besonders hart wird derzeit mit den "Tokio Hotel"-Zwillingen Tom und Bill Kaulitz umgegangen. In ihrem Podcast "Kaulitz Hills – Senf aus Hollywood" zogen die beiden untergriffig über Gottschalk her, gaben zu, ihn bei seinem Bambi-Auftritt ausgebuht zu haben. Eigentlich gehöre es sich nicht, andere Künstler auszubuhen, so Tom Kaulitz, aber "wenn du so was da oben sagst …" Seit Sonntag stehen die Brüder selbst am Social Media-Pranger.
Sehen das alle User so?
Nein, eine kleine Minderheit findet Gottschalks "Ich sage nichts"-Strategie falsch und hält damit auch nicht hinter dem Berg. In einer Focus Online-Umfrage äußerten sieben Prozent, dass sie seine Auftritte trotz Krankheit falsch fanden.
Und an der Rolle der Medien beim Gottschalk-Bashing wird keine Kritik geübt?
Doch, bislang zwar noch verhalten, aber es entwickelt sich. Vor allem ein Statement des ehemaligen deutschen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg auf LinkedIn lässt aufhorchen.
Weil?
Guttenberg war selbst 2011 über eine Plagiatsaffäre "gestolpert" und verspottet worden. Nun analysiert der Ex-Politiker messerscharf die "Empörungs-Mechanismen" der Sozialen Medien und deren Auswirkungen auf jene, die im Zentrum derartiger "Shitstorm-Kampagnen" stehen – wie Gottschalk vor dem Outing.
Was sagt Guttenberg?
Er bezeichnet Gottschalk als seinen Freund. Seine Geschichte erzähle "weniger über einen alternden Entertainer als über eine Republik, die vergessen hat, wie man aushält, ohne sofort zu richten".
Was ist damit gemeint?
Guttenberg schreibt: "Die Episode markiert einen gesellschaftlichen Reflex: Erst Häme, dann Hashtag-Reue, sobald die Diagnose 'Krebs' im Raum steht." Der Takt der Empörung kenne keine Schonfrist mehr; die öffentliche Figur sei nicht erst Mensch und dann Projektionsfläche, sondern umgekehrt.
Woran macht Guttenberg das fest?
Dass etwa aus einem misslungenen Auftritt medial sofort "Abstieg" oder "Fremdscham" würden – der Ex-Politiker nennt diesen Mechanismus "moralisch schäbig".

Was denkt er über die Rolle der Medien?
Wenig Gutes. "Medien agieren dabei oft als Verstärker dieses Reflexes, nicht als Korrektiv." Und weiter: An der Oberfläche wirke das wie bloße Geschmacklosigkeit, im Kern ist es Geschäftsmodell. Aufmerksamkeit sei zur Leitwährung geworden, Empörung ihr volatiler Derivatmarkt. Wer besonders scharf formuliere, gewinne damit Reichweite. Guttenberg: "Mitleid klickt eben schlechter als Häme."
Und die Mitleids-Kundgebungen für Gottschalk?
Pure Kalkulation, so zu Guttenberg: "Diese Ökonomie frisst nicht nur Anstand, sondern auch Gedächtnis." Die Plattformen, die gestern den Spott treiben ließen, würden heute die Betroffenheit über die Krankheit hosten – als wäre beides nicht Teil derselben Maschinerie.
Weshalb ist das so?
Auch darauf findet der Unternehmer eine Antwort: "Die Causa legt offen, wie sehr zwei Tugenden unter Druck geraten sind: Maß und Milde." Maß bedeute für ihn, einen misslungenen Auftritt einzuordnen – als Patzer, nicht als Untergang. Und Milde, die Möglichkeit mitzudenken, dass man nicht alle Umstände kenne: etwa Krankheit und biographische Brüche.
Was will Karl-Theodor zu Guttenberg mit all dem sagen?
Der 53-Jährige legt mit seinem Statement den Finger in eine gesellschaftliche Wunde, die in den sozialen Medien aufgerissen wurde, deren Schmerzen aber zunehmend auch im analogen Leben der Menschen spürbar werden. Denn auch im nicht-digitalen Alltag agieren Menschen immer häufiger nach den – oft menschenverachtenden – Mechanismen des Internets.
Und zwar?
Immer und zu möglichst allem so rasch wie möglich ein Statement absetzen, je knackiger und eingängiger, desto besser. Welche Auswirkungen Worte und Verhaltensweisen auf andere haben können, wird immer weniger zum Maßstab des eigenen Denkens und Handelns. Hauptsache das Aufmerksamkeits-Level wird erreicht.
Kurz gesagt?
Was Gutenberg vorhersagt: Social Media wird unser echtes Sozialverhalten über kurz oder lang kaputt machen, wenn wir das nicht erkennen und dagegen vorgehen.

Gibt es eine Gegen-Strategie?
Der deutsche Ex-Minister schlägt in seinem Statement eine "Re-Kalibrierung dessen, was als 'unterhaltsam' gilt" vor. Redaktionen müssten sich fragen, ob sie dem Takt der Algorithmen oder dem der eigenen Werte folgen wollten; Und Plattformen müssten entscheiden, ob sie nur Spiegel oder auch Mitverantwortliche sein wollen.
Was könnte jeder Einzelne tun?
Auch die User nimmt der Ex-Politiker in die Pflicht. Das Publikum müsse sich fragen, ob jeder Gedanke, der sich in 140 Zeichen pressen lasse, wirklich hinaus muss. "Vielleicht beginnt Humanität im Digitalzeitalter mit (…) dem nicht abgesendeten Witz, dem abgebrochenen Spott, dem Moment, in dem man sich daran erinnert, dass hinter der Figur eine Seele steckt – verletzlich, sterblich, wie die eigene."
Was sagt Thomas Gottschalk dazu?
Er hat sich bislang nicht zum Statement des Ex-Politikers geäußert – zumindest nicht öffentlich.
Und was wird jetzt mit Gottschalks letztem Show-Auftritt bei RTL?
Dieser soll wie geplant am 6. Dezember ausgestrahlt werden, das wurde am Montag bekannt. Die RTL-Show "Denn sie wissen nicht, was passiert" werde vorab aufgezeichnet, soll aber wie geplant stattfinden.
Mit welchem Argument?
"Auf ausdrücklichen Wunsch von Thomas Gottschalk wird er gemeinsam mit Barbara Schöneberger und Günther Jauch noch einmal Seite an Seite mit dem Publikum einen unterhaltsamen Abschiedsabend von der großen Showbühne feiern", so der Sender. Bereits vor Gottschalks Krebs-Outing war klar, dass es die letzte Sendung und der endgültige Abschied des Entertainers von der TV-Bühne sein würde.