2. Teil der Serie
Kriminelle Kinder: Wie klug ist es, junge Täter (nicht) zu bestrafen?
In Wien haben sich die Strafanzeigen gegen 10- bis 14-jährige Schüler seit 2015 mehr als verdoppelt. Es ist weniger ein Resultat des Ausländer-Zuzugs per se, als der sozialen Verwahrlosung. Niki Glattauer beginnt seine Analyse wieder mit einem Beispiel.

Das TikTok-Video ging, wie man heute sagt, viral: Am Riesenrad-Platz im Wiener Prater wird ein 16-jähriges Mädchen knapp nach Mitternacht scheinbar aus "heiterem Nachthimmel" von drei anderen Jugendlichen attackiert und ausgeraubt. Sie schlagen sie nieder, treten nach, als sie bereits am Boden liegt. Dann reißen sie ihr die Tasche vom Körper, nehmen Bargeld und Kopfhörer mit – und filmen sich gegenseitig beim Filmen der Tat mit ihren Handys.
Am nächsten Tag der erste Paukenschlag Die Mutter des Opfers identifiziert anhand des Clips einen der Täter als einen Burschen aus dem Freundeskreis ihrer Tochter und bringt die Polizei damit auf die richtige Spur. Uniformierte finden die Beute im Kasten eines 14-jährigen Schülers aus Syrien – in seinem WG-Zimmer in einem Krisenzentrum. Wenig später klicken die Handschellen für einen zweiten Teenager, einen 15-Jährigen aus dem Irak, der als "Intensivtäter" bereits amtsbekannt ist.

Dann die Paukenschläge zwei und drei Der dritte Täter ist eine Täterin, ein Mädchen aus Rumänien – 12 Jahre alt. Es stellt sich heraus: Dem Überfall soll Wochen davor eine Auseinandersetzung zwischen allen Beteiligten vorangegangen sein. Dabei soll auch das spätere Opfer selbst zugeschlagen haben (lese ich in der Zeitung Heute). Die Ermittler, so Heute, würden nun prüfen, ob es sich bei dem brutalen Angriff im Prater also um eine Racheaktion gehandelt hat. Bis zur Klärung dieser Frage bleiben die zwei Burschen einmal in U-Haft.
Und die 12-Jährige? Die Antwort darauf ist dem Inhalt nach seit Wochen Thema: Wegen ihres Alters strafunmündig (weil vermeintlich nicht "deliktfähig“), kann sie für die Tat strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden.
Oder richtiger: Sie zur Verantwortung zu ziehen, wird man wohl versuchen – mittels Normverdeutlichungs- und anderer -gespräche, dem Einschalten der Kinder- und Jugendhilfe (falls die nicht bereits eingeschaltet ist), Kontaktaufnahme mit der Schule, usw. – , aber "die volle Härte des Gesetzes spüren" wird sie nicht.
Eh gut – oder ganz schlecht? Hier scheiden sich die Geister: Eh gut, sagen die einen, denn Härte dürfte das Kind in seinem kurzen Leben genug erfahren haben. Ganz schlecht, sagen die anderen, denn ohne Strafe wird das Kind die schiefe Bahn nicht verlassen.
Dazu passend gleich mein Beispiel Nr. 2:

Ein Ex-Knacki (nicht) namens Lukas Da interviewte Ö1 für eines seiner Journale einen heute 20-jährigen, gesellschaftlich wieder voll integrierten Ex-Knacki mit dem Alias-Namen Lukas sowie die Chefin seines Bewährungshelfers vom Verein "Neustart", Außenstelle Steiermark. Was die beiden sagen, ist in Summe so widersprüchlich wie symptomatisch für derartige Fälle.
Hätte Wegsperren alles verschlimmert? Eingesessen (Rechtssprache für Haft) ist Lukas mit 17. Er hatte gestohlen, gerauft, geraubt, das Messer geführt. Nicht nur ein Mal. Als Wiederholungstäter fasste er 2 Monate unbedingt und einige Monate bedingt auf 3 Jahre aus.
Das sagt der Täter dazu … Für Ö1 darauf angesprochen, was ihn auf den sogenannten "rechten Weg" zurückgeführt habe, behauptete er sinngemäß, das sei keineswegs die Strafe gewesen, sondern das (Anm.: plötzliche?) Wohlwollen seiner Eltern sowie sein Bewährungshelfer. Wörtlich: " … jemanden zu haben, der da ist (…), jemanden, der einem zuhört." Und: Eine rechtzeitige befristete Anhaltung in einer geschlossenen Einrichtung – etwa ab 12, wie jetzt diskutiert – , hätte (ebenso wörtlich:) "… alles noch verschlimmert."

… und das die Bewährungshilfe Doch dann geht aus den Schilderungen von "Neustart"-Chefin Susanne Pekler – damals zuoberst für ihn zuständig – glasklar hervor, dass der sprichwörtliche Groschen bei Lukas wohl erst im Gefängnis und der streng überwachten Bewährungszeit danach gefallen sei. Er habe elektronisch überwachten Hausarrest bekommen, sprich: die Fußfessel. Er musste täglich einer Arbeit nachgehen, durfte abends nicht aus der Wohnung, hatte Alkoholverbot, penibel überprüft per Alkomat in der Wohnung.
Die "Neustart"-Leiterin auf die Widersprüche zwischen ihrer und seiner Aussage angesprochen: "Hier war schon gut, dass es eine Konsequenz gegeben hat."
Aha? Ist Strafen also doch der entscheidende Game-Changer?
Noch einmal gefragt: Was läuft hier schief?
Und damit wieder zum Versuch, die aktuelle Situation und ihre Auslöser sowie die möglichen Gegenstrategien für einen Weg aus dieser Misere zu beschreiben*. Sieben Punkte habe ich in Teil 1 der Serie (siehe Link oberhalb) bereits behandelt. Heute geht’s weiter:

8.) Was sagen eigentlich "die Leut'", wenn sie solche Berichte hören oder lesen?
Die folgende Leser-Post steht inhaltlich für 90 Prozent der Mails, die ich auf meine Heute-Kolumne zum Thema Jugendkriminalität bisher bekommen habe:
"Kinder brauchen Grenzen" "Wenn heutzutage Jugendliche schwere Straftaten begehen, dann vom Richter mit einer 'bedingten Geldstrafe' von 300, 400 € verurteilt oder nach schwerem sexuellem Missbrauch eines 12-jährigen Kindes mehr oder weniger freigesprochen werden, darf man sich nicht wundern, dass Strafen Kinder nicht abschrecken! Weil sie nämlich KEINE BEKOMMEN!! Sie kennen sowas gar nicht. Das alles ist ein Witz!! Heutzutage glauben viele Leute, dass Kinder mit 'dudu' ... und einer Erziehung ohne Grenzen zu reifen Erwachsenen heranwachsen. Seit jeher weiß man: Kinder brauchen Grenzen. Keine oder bedingte Strafen? Alles sowas von lächerlich." (anonym)
Oder (weniger emotional) dieser "Zur Eindämmung der Jugend- und Kinderkriminalität ist die Diskussion über eine Herabsetzung des Alters für die Strafmündigkeit durchaus zielführend. Wer sich wie ein Erwachsener verhält, soll auch wie ein Erwachsener behandelt werden. Die Einweisung in spezielle Erziehungsanstalten nach Delikten wie Einbruch oder Raub sollte wieder auf der Tagesordnung stehen." (Mag. Martin Behrens, per eMail)
Oder (kurz und einfach) der "Ich hab früher gern in Wien gelebt, aber es ist nicht mehr meine Stadt. Ich bin 68 und traue mich nicht auf die Straße. Ich bin einmal auch schon überfallen worden, von zwei Türken. Aber ich hatte kein Geld bei mir, denn ich war nur mit dem Hund, also sind sie zornig weitergegangen. Auf der Polizei hat der Inspektor (oder was er war) mit ausländischem Akzent gesagt, ich soll mich nicht so aufregen. Überall hört man nur noch fremde Sprachen, sogar bei der Polizei." (Annemarie Rosner)

9.) Ist Wien der Hotspot der Jugendkriminalität – und sind es da vor allem "die Ausländer"?
Auf beide Fragen ein klares Ja. Während die Gesamtzahl der Verurteilungen in Wien trotz des starken Bevölkerungszuwachses in den vergangenen 10 Jahren um 27 Prozent gesunken ist, werden Kinder und Jugendliche immer häufiger straffällig.
Doppelt so viele Anzeigen Im Vorjahr wurden in Wien 14- bis 18-Jährige 9.522 Mal angezeigt, das sind 55 Prozent mehr als 2015.
Bei den 10- bis 14-Jährigen waren es 5.066 und damit 111 Prozent mehr (österreichweit gab es die wenigsten Anzeigen und Festnahmen übrigens im Burgenland).
In den meisten Fällen geht es um Diebstahl und Einbruch. Mit 101 Fällen rangieren Delikte gegen die "sexuelle Integrität" in der Verurteilungsstatistik im untersten Drittel. Aber: Bei Kindern und Jugendlichen gehen die meisten Strafanzeigen auf wenige Personen zurück. So sollen in Wien drei Minderjährige allein fast 3.000 Taten am Kerbholz haben.
Es SIND die Ausländer In der Jugendkriminalitäts-Statistik ist der Anteil "Fremder" (= keine österreichische Staatsbürgerschaft) seit 2015 kontinuierlich gestiegen. Bei den 14- bis 18-Jährigen von 33 auf 39 Prozent. Bei den 10- bis 14-Jährigen von 46 auf 48 Prozent. Obwohl generell deutlich in der Minderheit, sind also Kinder mit fremdem Pass für fast die Hälfte der Delikte (im Stadium der Anzeige) verantwortlich. Wie viele dieser "Tatverdächtigen" Migrationshintergrund haben, wird nicht erhoben. Liest man die Strafakte, Zeitungen oder die Schulprotokolle zuständiger Lehrer und Schuldirektorinnen zwischen den Zeilen, sind es gefühlt 90 Prozent.

10.) In Wien heißt der Hotspot "Favoriten", richtig?
Falsch. Favoriten rangiert, in Relation zur Einwohnerzahl, im unteren Mittelfeld. Einsam an der Spitze und damit mit Abstand gefährlichster Bezirk ist die Innere Stadt. Rund 613 Straftaten bzw. 113 strafbare Handlungen gegen Leib und Leben pro 1.000 Einwohner wurden hier verzeichnet. Dazu muss man aber festhalten, dass die Innere Stadt einerseits eine verhältnismäßig geringe Einwohnerzahl hat, nämlich ca. 16.000 Personen. Zum Vergleich: Favoriten und die Donaustadt haben je ca. 220.000 Einwohner. Und andererseits der Ausgeh-Hotspot der ganzen Stadt ist, mit zigtausenden Menschen, die hier jeden Tag unterwegs sind.
Drohnen für mehr Sicherheit Aus dem Magazin "Öffentliche Sicherheit" des Innenministeriums, Ausgabe 1/2 2025: "Ein Hotspot für Raubüberfälle ist in Wien der Treppelweg entlang des Donaukanals, in dessen Nähe das 'Bermudadreieck' (im 1. Bezirk, Anmerkung) liegt. Das Donaukanalufer wird verstärkt bestreift, wobei die Bereitschaftseinheit und Polizeidrohnen zum Einsatz kommen."
Auch im Speckgürtel Zudem sei in letzter Zeit (gemeint: das zweite Halbjahr 2024) "eine spezielle Spielart von 'Kriminaltourismus' von Wien ins Umland festgestellt worden. Unter-14-Jährige, die in betreuten Wohngemeinschaften für straffällig gewordene Jugendliche untergebracht sind, begehen im Auftrag älterer Jugendlicher im Speckgürtel rund um Wien vermehrt Autoeinbrüche. Kriminelle Gruppierungen nutzen die Tatsache, dass Minderjährige unter 14 Jahren nicht belangt werden können, auch für andere Zwecke. Die Strafunmündigen werden beispielsweise für den Transport von Suchtgift oder Waffen eingesetzt", berichtet das Innenministerium.

11.) Gibt es in Österreich "Bandenkriminalität"?
Naja. Den ersten Teil meiner Analyse begann ich mit dem Martyrium, dem eine 29-jährige Lehrerin aus Niederösterreich, die in Wien-Liesing unterrichtete, ausgesetzt war, nachdem sie sich auf eine Liaison mit einem 17-jährigen Ex-Schüler eingelassen hatte. Die sieben Tatverdächtigen – Verdacht auf Erpressung, Nötigung, Vergewaltigung, Brandstiftung – inszenierten sich im Internet als Bande, die damit prahlte, dass jedem Mitglied "jederzeit 70 bis 80 Brüder" zur Seite stünden. Mit dem Hashtag "Liesing-Gang" präsentierten sie per Snapchat Videos und Bilder, die angebliche Einbrüche in Villen dokumentieren. Inwieweit das Prahlerei ist, ist Gegenstand der Erhebungen. Mehr als vier, fünf Personen – in wechselnder Besetzung – waren bei den angeblichen Raubzügen freilich nie dabei.
Syrer gegen Tschetschenen Eindeutig Banden-Charakter hatten die ethnisch motivierten Kämpfe zwischen Syrern und Afghanen auf der einen und Tschetschenen auf der anderen Seite im vergangenen Sommer auf mehreren Schauplätzen in Wien. Ursprünglich ging es um die "Vorherrschaft" in Parkanlagen, dann um Rache, schließlich um Vergeltung. Inzwischen ist der Konflikt befriedet. Auch hier: Viele der Bandenmitglieder waren Jugendliche und Kinder unter 14 Jahren.

12.) Zurück zum Kern der Diskussion: Ist die Senkung des Strafmündigkeit jetzt also vom Tisch?
Vorerst ja. Sie steht weder im Regierungsprogramm, noch haben die eng oder peripher zuständigen Minister/innen (Anna Sporrer (SPÖ, Justiz), Gerhard Karner (ÖVP, Inneres) und Christoph Wiederkehr (NEOS, Bildung) im Zuge der anhaltenden Diskussion Initiativen in diese Richtung bekundet. Im Gegenteil: Bildungsminister Wiederkehr spricht sich quasi im Wochentakt gegen eine Absenkung der Strafmündigkeit aus. Sein Ansatz: Gefängnisstrafen seien für Kinder kontraproduktiv: "In Gefängnissen passiert Radikalisierung."
13.) Wie ist das eigentlich im Ausland?
In mehr als der Hälfte der EU-Länder beginnt die Strafmündigkeit bei 14 oder 15 Jahren. In manchen liegt die Grenze bei zwölf Jahren, etwa in Ungarn, Irland und den Niederlanden. In Portugal beginnt die Strafmündigkeit erst ab 16 Jahren. In Polen ist man ab 17 Jahren strafmündig, für ausgewählte Straftaten wie Mord oder Entführung können aber auch 15-Jährige bestraft werden. In Frankreich werden Kinder unter 13 Jahren als nicht urteilsfähig gewertet. Ausnahmen gibt es auch in Irland. Dort liegt die Altersgrenze bei 12, bei schweren Taten gibt es eine Ausnahme für Kinder zwischen 10 und 11. Im Vereinigten Königreich können bereits Kinder zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt werden. Die Strafmündigkeit beginnt in England, Wales und Nordirland bei 10 Jahren, in Schottland bei 12.
Spezialfall Schweiz Immer wieder wird die Schweiz als "Paradebeispiel" für einen gelungenen Umgang genannt – und zwar sowohl von Befürwortern einer Herabsetzung der Strafmündigkeit, als auch von deren Gegnern. Erklärung: In der Schweiz können Kinder zwar schon ab dem 10. Geburtstag strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, eine Freiheitsstrafe gibt es aber trotzdem erst ab 16. Dazwischen: Sozialarbeit, teilweise in geschlossenen Unterbringungen. Dazu Christian Reiner, Geschäftsführer vom Verein "Rettet das Kind": Das seien große Areale, die "gar nicht an Haftanstalten erinnern, sondern die wohnen dort in Unterkünften und werden entsprechend betreut. Die haben dort die Möglichkeit, dass sie richtig Schule machen. Die leben dort ein gut angeleitetes Leben".

14.) Gefängnis nein, aber Strafe ja: Ist das der Schlüssel?
"Die Idee der Bestrafung greift zu kurz", sagt Daniel Schmitzberger, Vorsitzender der Fachgruppe Jugendstrafrecht in der Richtervereinigung und Jugendrichter in Wien. Im Kurier: "Ja, es ist durchaus ein Problem, wenn 12- oder 13-Jährige Straftaten begehen und man das Gefühl hat, man muss machtlos zuschauen, aber die machen das ja nicht von heute auf morgen. Es geht um Kinder, die eine schlechte Herkunftsgeschichte, teils psychiatrische Diagnosen und in ihrem Leben keine echten, verlässlichen Bindungen haben. Gefängnis würde einen weiteren Bindungsabbruch bedeuten. (…) Das Gefängnis wäre für sie der schlimmste Ort."
Es ist ein Gesamtversagen Christian Reiner vom Schweizer Verein "Rettet das Kind" spricht von einem "Gesamtversagen" und meint dabei Eltern, Schulen und Behörden: "Jugendliche brauchen Beziehungen zu Personen, die für sie Vorbilder sein können. Sie müssen Erlebnisse haben dürfen, die abseits von Gewalttätigkeit für sie positiv sind." Und dezidiert: "Wenn es einen Ort gibt, der für die Entwicklung von jungen Menschen ganz sicher nicht förderlich ist, dann ist es eine Jugendstrafanstalt."
15.) Aber Kinder (und deren Auftraggeber) kennen das System und nutzen es aus, oder?
Jugendrichter Schmitzberger: Da werde immer wieder ein Beispiel aus Oberösterreich genannt, wo ein Bursch im vergangenen Sommer erstmals verurteilt werden konnte, nachdem er einen Bademeister verprügelt hatte. 13 frühere Verfahren – unter anderen wegen Raubes – hatten eingestellt werden müssen, weil er nicht strafmündig war. ABER: "Gerade das ist ein Zeichen, dass sich Kinder von Strafen nicht abschrecken lassen. Sonst würden sie nach ihrem 14. Geburtstag ja aufhören."

16.) Fragt sich halt: Warum beginnen sie überhaupt damit? Gene? Kriminelle Disposition? Das soziale Umfeld? Langeweile?
Der schwedische Kriminologe Per-Olof Wikström, emeritierter Cambridge-Professor, erklärt (im Kurier): Der gängigste Irrglaube sei es, dass negative Karrieren von den sozialen Umständen abhingen. "Zum Beispiel, dass Kinder, die bei einem alleinerziehenden Elternteil in einer Sozialwohnung aufwachsen, eher kriminell werden. Warum sollte jemand, der so aufwächst, automatisch kriminell werden? Die überwältigende Mehrheit der Menschen mit diesem Hintergrund wird nicht kriminell. Ich bin selbst so aufgewachsen. Viele glauben, dass soziale Benachteiligung ein Schlüsselfaktor dafür ist, ob jemand Verbrechen begeht. Aber auch hier ist es nur eine kleine Minderheit."
Jeder langweilt sich einmal Der Kriminologe weiter: "Man überschätzt auch die Bedeutung von Freizeitaktivität. Man muss bedenken, dass selbst die Kriminellsten unter uns nur sehr wenig Zeit damit verbringen, Verbrechen zu begehen, vielleicht ein paar Stunden pro Woche. Also sogar, wenn man einen Kalender voller Aktivitäten hat, kann man Zeit für kriminelle Handlungen finden."
Auch zu re-agieren reicht nicht Cambridge-Kriminologe Wikström weiter: "Manche meinen, im Grunde seien wir alle kriminell, das Einzige, was uns zurückhalte, sei die Angst, erwischt zu werden." Statt präventiv zu wirken, würden wir nur re-agieren. "Wir kaufen bessere Schlösser, Überwachungskameras usw. Aber die meisten Menschen würden auch nicht einbrechen, wenn die Tür offen wäre …"

Was dann also? Wikström: "Das hat mit moralischer Entwicklung und der Fähigkeit zur Selbstkontrolle zu tun. Man muss schon bei den Kleinen ansetzen, schon im Kindergarten. Da wird der Grundstein gelegt. Aber man konzentriert sich in den Maßnahmen hauptsächlich auf die Jugendlichen, die dann oft schon länger kriminell sind. (…) Das Wichtigste ist, Kindern beizubringen, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und wie es das Wohlergehen anderer Menschen beeinflusst. Das ist das Grundprinzip. Es ist wie ein Training, man lernt Verhalten. Wenn man lernt, dass es in Ordnung ist, Gewalt anzuwenden, dann kann das zur Gewohnheit werden."

Vielleicht geht es ja auch schlicht nur um … Im Standard schloss der Sozialpädagoge Gawain Walter – er ist Gründer des Vereins Homebase – Verein zur Unterstützung und Erziehungshilfe für Kinder und Jugendliche, der sich auf die Unterbringung von "Systemsprengern" zwischen 6 und 18 Jahren spezialisiert hat – einen Gastkommentar mit dem Satz: "Was in der laufenden Diskussion allerdings völlig untergeht, ist die Frage, wo die Gewalt und Perspektivlosigkeit dieser Kinder und Jugendlichen ihren Ursprung haben."
Der Ursprung? Ich fürchte, die Antwort auf diese Frage besteht aus drei simplen Worten. Die zwei ersten könnten "Mangel an …" heißen, das dritte beginnt mit dem Buchstaben L …
* Ich stütze mich primär auf die Berichterstattung in den klassischen Printmedien, vor allem auf Meldungen, Reportagen und Hintergrundberichte in den Tageszeitungen Heute, Kurier und Standard sowie dem Wochenmagazin Falter.
** Wie stets, verwende ich die weibliche und männliche Form willkürlich wechselnd, alle anderen sind jeweils freundlich mit gemeint
Nikolaus "Niki" Glattauer, geboren 1959 in der Schweiz, lebt als Journalist und Autor in Wien. Er arbeitete von 1998 an 25 Jahre lang als Lehrer, zuletzt war er Direktor eines "Inklusiven Schulzentrums" in Wien-Meidling. Sein erstes Buch zum Thema Bildung, "Der engagierte Lehrer und seine Feinde", erschien 2010