NIKI GLATTAUER

Warum das Schulbuch bald aus den Klassenzimmern fliegt

KI wird das Schulleben verändern. Aber ganz anders als viele glauben, schreibt Bildungs-Experte Niki Glattauer.

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Seit der Diskussion um die Abschaffung der (leider nur so genannten) "vorwissenschaftlichen Arbeit (VWA)" als Pflichtteil der Matura (siehe meine "Expertise" dazu) ist sie wieder Thema: die künstliche Intelligenz, kurz KI. Ich sehe es an den Mails meiner Leser*: Vielen stellt es die Haare auf, wenn sie ChatGPT, Algorithmen & Co mit Schule zusammen denken. Für Eltern, die die Traditionen des Bildungsbürgertums hochhalten und bei "Aurea prima sata est aetas …" ins Schwelgen kommen, ist sie der leibhaftige Gottseibeiuns, Professoren der alten Schule sehen den Untergang des Abendlands. Und Lehrerinnen fürchten um nichts Geringeres als ihre Funktion. Alles Humbug!

KI schreibt Drehbuch, Lehrerin führt Regie Wird die KI unsere Schule erschüttern? Ja, wird sie – aber ganz anders, als sich die meisten das vorstellen. Zwei Prognosen wage ich: KI bedeutet das Ende des klassischen Schulbuchs – und damit des Massen-Einheitsunterrichts – und sorgt gleichzeitig für den Wiederaufstieg der Lehrerin als zentrale Figur des Lehrens. Die Lehrerin kann (endlich!) wieder individualisieren, sie wird moderieren, erklären, deuten, fördern und fordern. Um es mit einem Bild auszudrücken: Die KI schreibt das Drehbuch, die Lehrerin wird zum Regisseur. Und damit bekommt jeder Schüler (endlich!) seine ganz eigene Rolle.

Niki Glattauer ist als ehemaliger Schuldirektor in Wien Experte in Bildungsfragen
Niki Glattauer ist als ehemaliger Schuldirektor in Wien Experte in Bildungsfragen
Sabine Hertel

Bisher nur der Mensch Immer wieder erzähle ich gern mein Chow-Chow-Erlebnis, wenn ich beschreiben will, wie Schüler bis dato mit den Möglichkeiten der KI umgehen, bzw. eben nicht umgehen. Davor aber zwei Definitionen:

- KI ist ein Teilgebiet der Informatik. Sie imitiert menschliche kognitive Fähigkeiten, indem sie Informationen aus Eingabedaten erkennt und sortiert. (Fraunhofer-Institut für Kognitive Systeme) Oder auch:

- Mit KI werden Technologien beschrieben, die kognitive Kompetenzen imitieren, zu denen bisher nur Menschen fähig waren. Dazu zählt zum Beispiel strategisches Denken oder sprachliche Fähigkeiten (künstliche Intelligenz einfach erklärt).

Dank Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz werden wir das Schulleben ganz anders betrachten
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Ein Referat zum Chow Chow Damit zu einem Beispiel, das auch in einem meiner Bücher zu finden ist ("Leider hat Lukas schon wieder …", Kremayr & Scheriau, 2015). Es zeigt, dass die KI-Suchmaschine zwar "menschliche kognitive Fähigkeiten" imitieren kann, interpretieren muss sie aber dann immer noch ein Mensch, eine Lehrerin z.B., denn die Schülerin kriegt das leider halt nicht immer hin …

Lukas hatte in Biologie, Thema Hunderassen, die Aufgabe bekommen, eine "durch PowerPoint unterstützte Präsentation" über den Chow Chow zu halten. Nur war bereits das zweite Bild in seiner Präsentation kein Hund, sondern ein Panda. Lukas:

- Und so sieht ein Chow Chow aus:

Der Lehrerin blieb vor Staunen der Mund offen.

­- Nein, Lukas, das ist ein Panda.
- Doch, das ist ein Chow Chow. Ich hab‘' gegoogelt.
Und nach kurzem Grübeln:
- Es schaut vielleicht so aus wie ein Panda. Aber es ist ein Chow Chow. Es ist auch dort gestanden.
- Gut Lukas, ganz von vorn. Nimm deinen Smart-Trottel und zeig uns Schritt für Schritt, was du gemacht hast.

Schließlich stellte sich heraus, dass Lukas nach der Eingabe "Chow Chow" digital in einem chinesischen Zoo gelandet war, wo ein Panda-Männchen namens Chow Chow gerade erfolgreich für Nachwuchs gesorgt hatte ...
Was ich sagen will: Die KI kann ganz viel, aber ganz viel auch nicht. Sie kann z. B. nicht entscheiden, ob jemand versteht und richtig einordnet, was sie liefert (davon später mehr).

Schlafen, fressen, schauen und dann wieder von vorne: die Pandas im Tiergarten Schönbrunn
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Helmut Graf

Der Mensch braucht den Menschen Was KI noch alles nicht kann, drückt der Informatiker und Raumfahrttechniker Christoph Holz, Silicon-Valley Entrepreneur und Mitglied der Rednervereinigung "Speakers Excellence", in einem Bericht im Wissenschaftsmagazin "Heureka" (1/2024) so aus: "KI kann nicht spüren, wie es dir geht. Sie kann nicht Psychotherapeut werden. Sie kann nicht Pflegeperson werden, die bei der Heilung hilft. Auf diese Fähigkeit konzentriert sich der Arzt. Die Diagnose macht die KI für ihn. Aber wenn ich erfahre, dass ich Krebs habe, brauche ich einen Menschen, der mir hilft und der mit mir spricht."

Schüler brauchen Lehrer Was die Ärztin für ihre Patientinnen, das ist die Lehrerin für ihre Schülerinnen. "Seit Corona wissen wir, dass die Schule als Ort des sozialen Lernens, des Miteinanders unersetzlich ist", sagt Michael Rossipal.

Ich treffe den Unternehmer im Bereich Digitalisierung und medialen @.at-Pionier der ersten Stunde (vor 25 Jahren krone.at und news.at aufgebaut und jahrelang geleitet) in seinem Home-Office in Wien-Grinzing. Er sagt: "IT wird die Rolle des Lehrers nicht obsolet machen, sie nicht einmal schwächen, sondern im Gegenteil deutlich stärken. Wenn Corona uns nämlich etwas gezeigt hat, dann, dass die Schule nur etwas weiterbringt, wenn Kinder dort zusammenkommen und gemeinsam agieren – mit einem Lehrer im Mittelpunkt, der individuell auf sie eingeht. Die Schule von morgen ist Individualisierung in Gemeinsamkeit."

Das Ende des Buchs Rossipal prognostiziert das Ende des Schulbuchs. "Die Inhalte, die unseren Kindern in einer Schule von morgen vermittelt werden, müssten passgenau auf diese zugeschnitten werden, auf jedes einzelne, wenn es sein muss, jede Woche neu. Sie können nicht mehr von einem Autor kommen, der vor 15 Jahren ein Buch für eine Million Kinder geschrieben hat."

Das Gratis-Schulbuch wurde in Österreich 1972 eingeführt
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Picturedesk

Wir schlagen auf Seite 56 Tatsächlich nivelliert das Schulbuch eine immer heterogenere Schülerschaft zwangsläufig – und im Lernerfolg, wie wir wissen, vergeblich – zu homogenen Einheitsklassen. Vor allem in den Mittelschulen des Landes. Was daran liegt, dass dort Tausende von Lehrerinnen systemisch Fächer unterrichten (müssen), für die sie nie ausgebildet wurden. Also klammert sich die gelernte Deutsch- und Geographie-Lehrerin, die plötzlich Geschichte oder Physik unterrichten muss, weil es an ihrer Schule keinen ausgebildeten Physiker gibt (inzwischen mehr Regel als Ausnahme und eines der Haupt-Dilemmata unseres Bildungssystems), ans Schulbuch. "Wir schlagen auf Seite 56, Juri liest vor …"

Kevin versteht nur Bahnhof Nur hat Juri sein Buch wieder einmal nicht mit; also liest Rachel; sie tut es ungern, denn ihre Zahnspange lässt sie lispeln, glaubt sie zumindest; Milo langweilt sich, denn was in dem Buch steht, in dem da gelesen wird, weiß er längst aus dem Internet; Kevin liest mit, versteht aber nur Bahnhof, er kann nicht sinnerfassend lesen; die drei Syrer in der Klasse schauen sich derweil gelangweilt die Bilder an, sie lernen in ihren Deutschförderklassen-Stunden gerade das große A.

9,1 Millionen Schulbücher Das Approbierungsverfahren (= Genehmigungsverfahren) unserer Schulbücher kostet jedes Jahr eine Stange Geld. Die Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage der NEOS ergab schon vor Jahren, dass in das Approbieren Tausender Schulbücher 300 Personen eingebunden sind, die im Schnitt zwei Jahre (!) für das Genehmigen eines neuen Buches brauchen (ein Jahr für das Update und den Relaunch eines bereits approbierten) und jährlich 1,5 Millionen Euro kosten. Die unglaublichen Mengen an Buch hat man dabei gar nicht auf dem Radar: Im vorigen Schuljahr 2022/23 wurden für 1,2 Millionen Schüler 8.000 (!) verschiedene Schulbücher vergeben. Gesamtauflage: 9,1 Millionen Stück.

Derzeit werden 8.000 (!) verschiedene Schulbücher angeboten
Derzeit werden 8.000 (!) verschiedene Schulbücher angeboten
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Digitale Unterrichts-Pakete Rossipal erklärt seine Alternative zum Schulbuch. Es ist der Einstieg der KI. "Meine Firma ist imstande - und gar nicht als einzige in Österreich - , mittels sogenannter Crawler gewünschte Inhalte passgenau aus dem Internet zu saugen und damit maßgeschneiderte Unterrichts-Pakete zu schnüren. Texte in verschiedenen Längen, Sprachen, auf verschiedenen Niveaus. Es können kurze Zusammenfassungen sein oder ausführliche Abhandlungen, je nachdem, was sich der Lehrer für seine Schüler holen will. Wir brauchen eigentlich nur das Go."

Vom Fachblatt bis zu "Heute" Die digital generierten Inhalte wären mit Zugangscode per Klick abrufbar und immer auf dem letzten Stand. "Egal, ob ich als Lehrer den Nahost-Konflikt oder die galoppierende Inflation unterrichten will, ich bekomme all das, was in den letzten Monaten weltweit dazu veröffentlich wurde, von der linksliberalen 'El Pais' bis zum konservativen 'Corriere della Sera'. Vom Fachblatt bis zur Boulevardzeitung. Wenn gewünscht, mit Bildern auf eine Seite komprimiert, und die neusten Zahlen und Statistiken gibt's gleich dazu."

Lehrerin als Regisseur Die entscheidende Rolle bekommt die Lehrperson im Klassenzimmer. Sie ist der Regisseur. Sie kennt das Drehbuch nicht nur, sondern hat aktiv daran mitgearbeitet, hat es bearbeitet, ist vielleicht sogar Teil des Teams, das die Inhalte erstellt. Rossipal: "Die KI ist nur so gut, wie die Lehrer, die sie anwenden. Was in den Klassen unterrichtet wird, muss von ihren Lehrpersonen kommen, je engagierter, desto besser. Ich kann mir vorstellen, dass Lehrer in den Redaktionen sitzen, die die Inhalte generieren, und dabei auch zusätzlich Geld verdienen. Wer viel tut, soll auch etwas davon haben. Schulbuchautoren und Verlage verdienen schließlich auch an ihrer Arbeit. Lasst uns also von den engagierten Lehrern profitieren, und lasst sie profitieren!"

Künstliche Intelligenz macht Lehrerinnen zu Regisseuren in der Klasse
Künstliche Intelligenz macht Lehrerinnen zu Regisseuren in der Klasse
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So läuft es in Jerewan In anderen Teilen der Welt wird solches längst praktiziert. Christoph Holz berichtet über eine Schule im armenischen Jerewan, "wo sich 700 Schüler wie an einem Skilift" anstellen, um in einer Nachmittagsschule mit Hilfe von 20 Lehrern, die sich als Trainer verstünden, an jeweils eigenen Computern Aufgaben zu lösen, die ihren Stärken und Schwächen entsprechen.

Mit 14 auf Hochschulniveau "Ist da wer in Mathematik gut", so Silicon-Valley-Informatiker Holz, bekommt er immer anspruchsvollere Aufgaben und ist vielleicht schon mit 15 auf Hochschulniveau, ohne dass die andern stinkig werden, weil durch ihn die Aufgaben schwieriger werden. Wer nicht begabt ist, wird vielleicht Lehrer zur Hilfe holen müssen. Er wird in Mathe nicht Hochschulreife erreichen, aber immer noch doppelt so gut sein, wie er in einer normalen Schule geworden wäre."

Von "eSquirrel" bis "SchuBu" Die derzeitigen bahnbrechenden Erfolge mittels generativer KI werden freilich nicht in Armenien, sondern in China und den USA erzielt. In den USA sorgt etwa das Programm "Teach to One" mit digitalen Mathematik-Programmen seit Jahren für vorher nie für möglich gehaltene Schülerleistungen. In Österreich ist man aber selbst hinter Armenien zurück. Nicht nur Michael Rossipal kämpft seit Jahren für ein Umdenken in den zuständigen Behörden des Ministeriums. Auch Firmen wie "eSquirrel", "chabaDoo" oder "SchuBu" beißen sich die Zähne dabei aus, ein Approbieren ihrer digitalen Konzepte zu erwirken. "Solange das Bildungsministerium nur Inhalte approbiert und nicht didaktische Systeme, wird Digitales immer nur Beiwerk von Analogem sein."

Offizielle Stellen (hier Bildungsminister Martin Polaschek) stehen der Digitalisierung in der Schule mit einem gewissen Desinteresse gegenüber
Offizielle Stellen (hier Bildungsminister Martin Polaschek) stehen der Digitalisierung in der Schule mit einem gewissen Desinteresse gegenüber
Helmut Graf

Und wo ist jetzt das Buch? Rossipal: "Die einen verstehen uns nicht, die anderen wollen uns nicht verstehen." Er selbst hat vor Jahren schon über einen klassischen Schulbuchverlag versucht, dem Bildungsministerium sein Konzept anzupreisen. Vergeblich. "Als ich mit meinen Erklärungen fertig war, hat man mich groß angeschaut, dann kam die Frage: Und wo ist jetzt das Buch?"

The next big thing = KI In manchen Teilen der Bevölkerung ist man schon weiter. Bezeichnend dafür ein Post, den mir ein Leser aus einem "Standard"-Forum weitergeleitet hat:
"Lernpläne gehören umgeschrieben. Wir lernen seit hunderten Jahren auswendig und versuchen uns irgendwelche Daten zu merken. Das Ganze stammt noch aus der Zeit, als Mönche unterrichtet haben und es wenig Bücher gab. Je mehr Mensch Infos im Kopf hatten, desto höher standen die Chancen, dass das Wissen erhalten blieb. Auch gab es keine Möglichkeit, Wissen schnell und laufen parat zu haben. Seit 20 Jahren gibt es Smartphones und noch länger einen riesigen dezentralen Datenspeicher – das Internet. An diese Gegebenheiten und auch 'the next big thing = KI', sollte die Bildung angepasst werden."

* Ich pendle in meinen Texten zwischen weiblichen und männlichen Formen. Andere Geschlechter sind jeweils freundlich mitgemeint

Nikolaus "Niki" Glattauer, geboren 1959 in der Schweiz, lebt als Journalist und Autor in Wien. Er arbeitete von 1998 an 25 Jahre lang als Lehrer, zuletzt war er Direktor eines "Inklusiven Schulzentrums" in Wien-Meidling. Sein erstes Buch zum Thema Bildung, "Der engagierte Lehrer und seine Feinde", erschien 2010

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