NIKI GLATTAUER

Start in die Matura: "Und wer braucht das? Niemand."

Am 29. April geht es los, 40.000 treten zur Matura an. Schulexperte Niki Glattauer ist für eine Reform der Reifeprüfung. Und die Abschaffung der VWA.

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Es ist wieder Matura. Rund 40.000 Schülerinnen* der 12. (AHS) bzw. 13. Schulstufe (BHS) präsentierten in den letzten Wochen mit mehr oder weniger Verve ihre "vorwissenschaftlichen Arbeiten (VWA)". Am 29. April starten heuer mit Betriebswirtschaftslehre und Rechnungswesen für die Berufs-Matura die schriftlichen Klausuren. Doch nicht einmal mehr Matura-Schulen halten die "standardisierte kompetenzorientierte Reife- und Diplomprüfung", wie die AHS- und BHS-Matura offiziell heißt, für sinnvoll. Ein Erdbeben.

Die Vorbeben gibt es bereits Das letzte lösten die aus, die es am meisten betrifft – die Maturanten und Maturantinnen selbst. Die Austria Presse Agentur veröffentlichte am 24. April eine Umfrage des Nachhilfeinstituts "Lernquadrat" unter mehr als 700 angehenden Maturantinnen zu ihrer momentanen Causa prima. Die Ergebnisse:

- Fast Dreiviertel der Befragten (70 %) halten die Matura für "in ihrer derzeitigen Form veraltet und modernisierungsbedürftig".
- Nur 40 Prozent gaben an, sich "mit der Reifeprüfung gut auf das Leben vorbereitet" zu fühlen.
- Während 75 Prozent davon ausgehen, dass sie "das meiste für die Matura Gelernte gleich nach der Prüfung wieder vergessen werden".
- Neun von zehn Befragten gaben an, dass die VWA, "für noch mehr Stress im Maturajahr" gesorgt hat.

Niki Glattauer ist als ehemaliger Schuldirektor in Wien Experte in Bildungsfragen
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Sabine Hertel

Weg mit den VWA Schon Anfang des Jahres forderten die beiden größten Fraktionen in der AHS-Lehrer-Gewerkschaft, die "Österreichische Professorenunion" und die "Fraktion christlicher Gewerkschafter", die Abschaffung der VWA. Die Argumente: Erstens sei mit den vorhandenen Ressourcen nicht mehr überprüfbar, ob eine Arbeit von einer Schülerin oder einer KI verfasst wurde, zweitens bevorzuge ChatGPT selbst bei korrekter Verwendung (mit Zitierung der KI-generierten Passagen) die Kinder einer relativ kleinen, meist akademisch gebildeten Elternschicht, Kinder anderer Eltern seien benachteiligt.

Begleitung schlichtweg nicht vorgesehen Ähnlich dazu die "Unabhängigen Gewerkschafterinnen". Zuletzt sei es "nur durch außerordentliches, unbezahltes Engagement der betreuenden Lehrer*innen gelungen, Schüler*innen im Großen und Ganzen gut auf das Schreiben von Seminararbeiten an der Uni vorzubereiten", heißt es in einem Brief der ÖLI-UG-Obleute Claudia Astner und Hannes Grünbichler an Bildungsminister Martin Polaschek, jetzt erfordere "der mögliche Einsatz von KI eine noch intensivere Begleitung, die an den Schulen schlichtweg nicht vorgesehen ist".

Damit verfehlt die VWA aber ihren Sinn, nämlich angehende Studentinnen auf wissenschaftliches Arbeiten und korrektes Zitieren vorzubereiten.

Auch die Lehrer wollen  s o  nicht mehr Die ersten heftigen Erschütterungen am Denkmal Matura verursachte im letzten Sommer eine Umfrage der Arbeiterkammer unter 400 AHS- und BHS-Lehrerinnen. Das Ergebnis: Acht von zehn Befragten verlangen Reformen, ein Viertel will sie sogar gänzlich abgeschafft wissen. Dieses Ergebnis resümierte die Leiterin des Bereichs Bildung in der AK, Ilkim Erdost, damals so: "Die Matura ist aus der Zeit gefallen", und sie zitierte eine der Lehrerinnen: "Schaffe ich es als Schüler bis dorthin, finde ich die Matura unnötig."

Zentralmatura in Coronazeiten: Das Wiener Goethegymnasium mit Direktor Hubert Kopeszki
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Helmut Graf

Non vitae sed scolae discimus In einem Mail an mich schrieb der Welser AHS-Lehrer i. R. Peter Öfferlbauer: "Die Matura als 'rite de passage' hatte ja wohl einmal eine gewisse Berechtigung. Doch seitdem die Schulgesetze klar gegen die Lernpsychologie verstoßen, indem sie die Prüfungen mit der Bekanntgabe der Termine vorschreiben, obwohl man weiß, dass das, was auf Termin hin gelernt wird, rasch wieder vergessen wird, lernen Maturanten nur noch fürs Durchkommen - non vitae sed scolae …" Und: Die Matura sei ein Ritus, der weniger denn je erworbenes Dauerkönnen bezeuge.

Matura ist Bulimie-Lernen Ich behaupte ja, der Ritus Matura hat noch nie erworbenes Dauerkönnen bezeugt, sondern schon immer lediglich die Fähigkeit zum termingerechten Reproduzieren von Kurzzeit-Erlerntem. "Bulimie-Lernen" nennt man in Anlehnung an die psychische Krankheit, die Menschen dazu bringt, mühsam Hineingestopftes sofort wieder zu erbrechen, das kurze, sehr intensive Auswendiglernen mit dem Ziel, das Wissen im Anschluss "einfach wieder auszuspucken" – und danach sofort aus dem Kurzzeitgedächtnis zu verbannen. War bei mir nicht anders.

Vom "Fleck" zum "Gut" Ich hatte seinerzeit, 1977, Mathe zusätzlich zur Schriftlichen auch mündlich genommen, denn ich war mir sicher, sie schriftlich nicht zu schaffen, und wollte mir eine zusätzliche Prüfung fürs Ausbessern ersparen. Tatsächlich war ich mündlich dann "Gut" – und hatte nach dem erwarteten schriftlichen "Fleck" meinen Vierer. Dass ich, meinem tatsächlichen Leistungsniveau keineswegs entsprechend, mündlich reüssierte, verdankte ich meinem Nachhilfelehrer, mit dem ich zwischen "Schriftlicher" und "Mündlicher" meine Nachmittage verbrachte. Ich wusste Daumen mal Pi, was kommen würde, er bläute es mir ein. Damals erfolgreich. Nur, wenn ich heute wissen will, wieviel Prozent 7100 von 42.000 sind (später mehr von diesen Zahlen), muss ich eines meiner mathematisch offenbar besser ausgebildeten Kinder fragen.

Künftig entscheiden die Unis selber Immerhin taugte die Matura früher noch als Eintrittskarte für ein Studium. Seitdem aber immer mehr Studienzweige Aufnahmsprüfungen vorschreiben, gilt auch dieses Argument nicht mehr. Der Rektor der Universitätenkonferenz, Oliver Vitouch, sprach's gelassen aus: Er rechne damit, sagte er im "Standard", dass "künftig die Unis und nicht Maturaprüfungen" regeln werden, ob jemand für ein Studium geeignet sei und falls ja, für welches.

2019 wurden Ideen gesammelt, wie die Zentralmatura in Mathematik verbessert werden könnte
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Helmut Graf

Daumen runter auch bei der Maturaschule Sogar einer der, metaphorisch gesprochen, davon lebt, dass es die Matura und ihre schwierigen Prüfungen gibt, hält sie in ihrer jetzigen Form für "unbrauchbar". Ich habe Kurt Gröller, Co-Geschäftsführer der renommierten Maturaschule "Humboldt", in seinem Büro am Keplerplatz in Wien-Favoriten besucht: "Die Matura ist ein gigantischer Papieraufwand, ein gigantischer Personalaufwand, ein gigantischer Organisationsaufwand", sagt er, "da kommen also enorme Kosten zusammen. Und wer braucht das? Niemand."

Vom Wert gedrehter Ellipsen Das Kerngeschäft bei "Humboldt" seien inzwischen Berufsreifeprüfungen, aber man bereite auch heuer wieder zig AHS-Maturanten als Externisten mittels Fernlehre auf die klassische Matura vor. Und damit auf Prüfungen, die, so Gröller, "nicht mehr zeitgemäß" seien. "Mathematiker verlangen gedrehte Ellipsen, Deutschlehrer zum Beispiel das Schreiben von Leserbriefen in genormter Gliederung. Aber wie oft im Leben wird einer, der heute 18 ist, später genormte Leserbriefe schreiben?"

"Matura light" war einmal Seit zwei Jahren ist der Antritt zur mündlichen Prüfung wieder verpflichtend (in zwei Fächern, wenn man vier schriftliche Klausuren gewählt hat, in dreien bei drei "Schriftlichen"). Damit ist die "Matura light" der Corona-Jahre weitgehend Geschichte. Zwar wurde bei der "Schriftlichen" die Arbeitszeit gegenüber der Vor-Corona-Zeit um 60 Minuten verlängert und auch die Note im Jahreszeugnis findet wieder "Berücksichtigung", aber wie schon im Vorjahr, muss dabei ein Schwellenwert erreicht werden.

Dellen an den Schwellen Deutsch z. B. schafft man nur, wenn in einem Text die "Dimension Inhalt in einer der beiden Aufgaben des gewählten Themenpakets überwiegend erfüllt" wird (so das Ministerium 2023 in der "Korrektur- und Beurteilungsanleitung für Deutsch, Kroatisch, Slowenisch, Ungarisch"). In Mathe ist die Schwelle das richtige Lösen von 30 Prozent der gestellten Aufgaben. Schafft man die Schwelle nicht, muss erst recht wieder die Kompensationsprüfung bestanden werden, sonst findet die Note der letzten Schulstufe keine Berücksichtigung.

"Streik der Maturanten" vor dem Wiener Stephansdom am 26. Jänner 2022
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Denise Auer

Angstfach Mathematik Dass Mathematik auch heuer wieder das Angstfach Nr. 1 ist, belegt die "Lernquadrat"-Umfrage: Jede Dritte der Befragten "hätte gerne, dass die Mathematik-Klausur nicht mehr verpflichtend" ist. Und: Knapp 20 Prozent glauben, sie werden die "Reifeprüfung nicht bewältigen". Keine ganz falsche Selbsteinschätzung.

Ausgezeichnet ausgefallen? "Hochgerechnet 8.000, also fast 20 Prozent, haben ihre Reife nicht auf Anhieb erlangt", schrieb ich so (oder so ähnlich) voriges Jahr, als die Ergebnisse zum Ersttermin aus den BHS durchsickerten. Was wurde ich daraufhin vom Ministerium nicht gescholten! Wie ich auf solche "Horror-Zahlen" komme, die Matura sei ausgezeichnet ausgefallen, in den AHS seien so gut wie alle durchgekommen. Das Ministerium ließ über die Medien Jubelmeldungen verbreiten.

Oder doch nicht? Inzwischen gibt es die Zahlen der Statistik Austria. 7.100 waren es, die zum Ersttermin 2023 trotz 12 bzw. 13 Jahren erfolgreicher Schullaufbahn ihre "Reife" nicht auf Anhieb erlangt hatten. Entweder hatten sie gar nicht antreten dürfen (3.500), oder sie vergurkten – das sprichwörtliche Brett vorm Kopf, die Nerven geschmissen – mindestens einer der Klausuren (3.600). Ich war mit meinen 8.000 demnach nah dran. 17 Prozent scheiterten also im ersten Anlauf, von "so gut wie alle durchgekommen" keine Rede. Erst im Februar, ein halbes Jahr später, waren dann – wie jedes Jahr auf wundersame Weise – doch "so gut wie alle" reif.

Tragische Folgen Immer wieder gibt es Schüler, die in dieser Phase aufgeben. Selten, aber doch, sogar sich selbst. Ich habe voriges Jahr in meiner Kolumne auf heute.at von einem mir bekannten jungen Mann geschrieben, der zum Ersttermin gescheitert war und sich im Sommer darauf das Leben nahm - wie aus seinem Abschiedsbrief hervorging, nicht nur, aber auch wegen der Schande, bei der Maturaprüfung versagt zu haben …

Evangelische Messe für angehende Maturanten am 18. April 2023 im Stephansdom mit Kletterturm, Dompfarrer Toni Faber und Pfarrerin Julia Schnitzlein
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Helmut Graf

Lechts und rinks kann man nicht velwechsern Politisch gibt es zum Thema zwei Lager. ÖVP und FPÖ sind für die Beibehaltung der Maturaprüfung in ihrer jetzigen Form, Grüne und Pinke (verhalten) für Reformschritte. Für eine große Reform hat sich zuletzt die (vor allem Wiener) SPÖ ausgesprochen, nichts dazu gehört habe ich bis dato von Bierpartei und KPÖ.  Bezeichnend jedenfalls einzelne Aussagen.

Steht nicht zur Debatte Bildungsminister Martin Polaschek am 23. April zur APA: "Für mich ist und bleibt klar, dass es auch in Zukunft ein Festhalten am Konzept Matura braucht. Dabei steht die Abschaffung der Benotung mittels Ziffernnoten für mich nicht zur Debatte." Die Bildungssprecherin der NEOS, Martina Künsberg Sarre: "Wir sind schon für die Matura, weil wir glauben, dass es wichtig ist, da quasi einen Abschluss zu haben. Man kann natürlich gewisse Elemente verändern, aber da müssen wir schon im Vorfeld so viel verändern, danach kann man über die Matura reden." Deutlich für eine Reform die SPÖ. Wiens Bürgermeister Michael Ludwig bei der zweiten "Wiener Konferenz" letzten November: "Es geht darum, dass die punktuelle Wissensabfrage, so wie sich die Matura derzeit präsentiert, für die Lösung der Zukunftsfragen nicht mehr geeignet ist. Wir treten deshalb für komplexere Abfragungsmethoden ein."

Tempora mutantur Wie ein "quasi Abschluss" (die Pinken) in Kombination mit "komplexeren Abfragemethoden" (die Roten) ausschauen kann? Dazu postete mir die "Heute"-Leserin, "ehemalige Lehrerin, Mutter von Maturantinnen und Praxisbetreuerin" Hedwig Hafergut: "Die Matura in ihrer antiquierten Form ist überflüssig. Das Maturabrimborium bringt nichts mehr - tempora mutantur. Für die meisten Studien muss mittlerweile ohnehin eine Einstiegsprüfung absolviert werden. Es könnte ein ganz normaler Abschluss der 12. bzw 13. Schulstufe ausreichen, würden Oberstufenschüler sich Schwerpunkte wählen können, selbständig arbeiten und dann präsentieren dürfen."

So könnte Matura künftig aussehen Das ist es, wofür auch ich bin: Man sorge in der 8. (AHS) bzw. 9. Klasse (BHS) für sein positives Abschlusszeugnis – womit man den erfolgreichen Abschluss seiner Bildungskarriere eindrücklich unter Beweis gestellt hätte – und präsentiere dann bei einer feierlichen Matura-Zeugnis-Verteilung seinen Eltern, Lehrerinnen (und meinetwegen einer ministeriellen Kommission) eine produktive Einzel- oder Gruppenarbeit (im Gegensatz zu den heute meist "reproduktiven" VWA).

Paul Stich, Vorsitzender der SozialistischenJugend, will die "Matura kübeln"
Paul Stich, Vorsitzender der SozialistischenJugend, will die "Matura kübeln"
Sabine Hertel

Fallstudien, Experimente, Produkte Diese Arbeit sollte selbstgewählt sein, eventuell aus einem Themen-Pot, den die Schüler in Absprache mit ihren Lehrerinnen und dem Schwerpunkt der jeweiligen Schule entsprechend gefüllt haben, im optimalen Fall bereits als Vorbereitung auf ein Studium, das man später beginnen will. Und dann sollte ein paar Monate lang produktiv gearbeitet werden, also z. B. etwas erhoben, etwas hergestellt, Menschen auf der Straße und/oder telefoninterviewt, Experten befragt, Fallstudien erstellt, Experimente durchgeführt.

Statt mit hängender Zunge … All das nicht zusätzlich zu Klausuren und Prüfungen, sondern statt dieser. Denn die nächste Prüfung wartet ja (meistens) bereits. Noch einmal Ilkim Erdost, Bildungsleiterin der AK: "Besonders im Gymnasium wird das letzte Jahr ausschließlich darauf verwendet, sich mit hängender Zunge auf die Zentralmatura vorzubereiten. Dann müssen sich die jungen Leute im angeblichen 'Sommer ihres Lebens' schon auf die nächste Prüfung vorbereiten, den Aufnahmetest für ihren Wunschstudiengang."

Von jetzt an wird gezittert Heuer endet der schriftliche Block am 16. Mai mit Latein (22 Personen haben stattdessen Altgriechisch gewählt). Dann im Juni die "Mündliche", beginnend mit den Kompensationsprüfungen. Die Herbsttermine gibt es vom 17. September bis 8. Oktober. Und schließlich für die ganz "Späten" die Wintertermine vom 9. bis 28. Jänner. Bis dann endlich (fast) alle reif sind, schreiben wir das Jahr 2025.

Von jetzt an darf gezittert werden.

* Ich pendle in meinen Texten zwischen der weiblichen und männlichen Form. Jeweils andere Geschlechter sind stets freundlich mitgemeint

Nikolaus "Niki" Glattauer, geboren 1959 in der Schweiz, lebt als Journalist und Autor in Wien. Er arbeitete von 1998 an 25 Jahre lang als Lehrer, zuletzt war er Direktor eines "Inklusiven Schulzentrums" in Wien-Meidling. Sein erstes Buch zum Thema Bildung, "Der engagierte Lehrer und seine Feinde", erschien 2010

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