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Kopfnüsse

Tag der Wahrheit: Wie der Kanzler die Geduld mit sich selbst verlor

Die Regierung steht (wieder einmal) vor entscheidenden Tagen. Warum bei der Deregulierung ausgerechnet das Auto-Pickerl für Unfallgefahr sorgt. Wieso das Ampel-System ein Comeback feierte. Und welche Geisterfahrten es diese Woche sonst so gab.

Das täuscht, Kanzler Christian Stocker wird hier nicht körperlich attackiert
Das täuscht, Kanzler Christian Stocker wird hier nicht körperlich attackiertHelmut Graf
Newsflix Kopfnüsse
Akt. 30.11.2025 10:39 Uhr

Kann Bürokratie ansteckend sein? Also besteht die Möglichkeit, dass sich ein Amt bei der Erledigung einer Aufgabe eine Art Beschäftigungsvirus einfängt und ein anderes Amt damit infiziert? Vereinfach gefragt: Gibt es wie bei der Grippe so etwas wie einen büralen Infekt?

Darüber musste ich nachdenken, als ich dieser Tage ein Schreiben der Österreichischen Gesundheitskasse erhielt, genau genommen meine Frau. Ich führe seit gut zwei Monaten einen sehr erbaulichen Dialog mit dem Finanzamt. Dieser Dialog hat nicht nur mein Leben bereichert, sondern auch schon die eine oder andere Kopfnuss.

Es geht um einen recht trivialen Vorgang, nämlich die Verlängerung der Familienbeihilfe für meinen jüngsten Spross. Ich stellte die dafür angeforderten Unterlagen fristgerecht zur Verfügung, das Amt nahm sich für die Bearbeitung fristlos Zeit. Vielleicht spürte es schon das Heranziehen eines büralen Infekts, einer brutalen Form des Verwaltungs-Männerschnupfens.

Im - zumindest vorerst – letzten Telefonat mit dem Finanzamt, teilte mir das Finanzamt mit, dass sich das Finanzamt für die Erledigung der doch sehr umfangreichen Arbeit selbst bis zu acht Wochen Zeit eingeräumt hatte. Auch diese Frist ist inzwischen verstrichen. Das macht theoretisch wenig, praktisch viel.

Wo ist eigentlich der Babler Andi? Ich habe keine Ahnung, aber wer war das genau?
Wo ist eigentlich der Babler Andi? Ich habe keine Ahnung, aber wer war das genau?
Helmut Graf

Wäre das Finanzamt Amazon, würde ich dem Lieferanten nun mitteilen, dass ich das bestellte Produkt nicht mehr benötige, aber das geht bei Behörden schlecht. Außerdem könnte es die amtliche Unpässlichkeit verschlimmern. Von Männerschnupfen weiß man, dass der Verlauf sehr dramatisch ausfallen kann.

Die Nichterledigung der Einreichung hat aber nun eine andere Institution infiziert. Weil das Finanzamt die Familienbeihilfe noch nicht verlängert hat, teilte die Österreichische Gesundheitskasse meiner Frau mit, dass mein Sohn nun nicht mehr bei ihr mitversichert sei.

Mit KI-Stimme: Wie der Kanzler die Geduld mit sich selbst verlor

Die Information barg mehrere Überraschungen. Die größte war vielleicht, dass eine Mitversicherung endete, die nie begonnen hatte. Mein Sohn war immer bei mir mitversichert. Wenn es je eine Mitversicherung bei meiner Frau gegeben haben sollte, dann war sie geheim.

Wir lernen: Österreichs Verwaltungskörper sind nicht nur hin und wieder unpässlich, sondern auch verschwiegen. Selbst Betroffenen gegenüber.

So, dann schauma einmal nach, was es zum Essen gibt
So, dann schauma einmal nach, was es zum Essen gibt
Helmut Graf

Das führte dazu, dass ich begann, auch mit der ÖGK erbauliche Telefonate zu führen. Beim ersten Gespräch kam ich nach ein paar Minuten Laufwaren-Musik an einen freundlichen Mann, der aber einen Wettbewerbsnachteil hatte: er sprach am liebsten in Konjunktiven.

Es stellte sich heraus, dass mein Sohn bei beiden Elternteilen mitversichert war. Warum auch immer! Um genau zu sein, sagte der freundliche Mann, dass es so sein könnte, dass er bei meiner Frau und bei mir mitversichert sei. Er meinte auch, dass es damit seine Richtigkeit haben könnte. Das Problem wäre aber eventuell durch die Beibringung einiger Unterlagen aus der Welt zu schaffen.

Die Angelegenheit wurde kompliziert, als ich Nachfragen hatte und ebenfalls von der Konjunktivitis angesteckt wurde. Ich wollte etwa wissen, ob ich auch noch ein Schreiben erhalten würde (Antwort: "könnte sein"). Wenn nicht, ob mein Sohn dann nur mehr halb mitversichert wäre, bei mir nämlich ("wahrscheinlich nicht") und nur mehr Anspruch auf die halben Leistungen hätte ("ich denke nein").

Jedenfalls schickte ich der ÖGK alle Unterlagen, die ich auch schon dem Finanzamt geschickt hatte. Die Krankenkasse war bei der Erledigung flotter, auf das Finanzamt warte ich noch. In den Zeitungen ist im Dezember häufig von Weihnachtswundern die Rede. Ich werde zu Tränen gerührt sein, wenn es passiert.

Das hier ist unser Maßnahmenpaket ...
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Helmut Graf
... jetzt sag du, lieber Christoph, was Hochgestochenes über Bildung ...
... jetzt sag du, lieber Christoph, was Hochgestochenes über Bildung ...
Helmut Graf
... und du, Claudia, irgendwas Abschätziges über Ausländer
... und du, Claudia, irgendwas Abschätziges über Ausländer
Helmut Graf

Die Nation war nicht zu Tränen gerührt, als Christian Stocker diese Woche ins Amt zurückkehrte, aber sie war zumindest geschüttelt. Das lag vielleicht auch an den Videos, die dem Comeback beigestellt wurden. Von der ÖVP. Oder vom Kanzleramt. Oder von beiden, da werden nach wie vor keine großen Unterschiede gemacht. In Österreich sind Übergänge immer fließend.

"Schön, wieder im Bundeskanzleramt zu sein", sagte der Bundeskanzler auf der Instagram-Seite des Bundeskanzleramtes. Er saß im Kreiskyzimmer, trug einen dunklen Anzug mit getupfter Krawatte und verriet, was er demnächst so plant.

Auf der Instagram-Seite der ÖVP stand derselbe Kanzler im selben Anzug mit derselben Krawatte und verriet, was er demnächst so plant.

Dazu sah man Christian Stocker in Zeitlupe, wie er die Stiegen hinauf ins Büro geht, für seine Verhältnisse in federndem Schritt. Man sollte vorausschicken: Der Zirkus Roncalli hatte nie den Plan, den Kanzler für eine Nummer mit Schlangenmenschen zu verpflichten, daran hat auch die Rücken-OP nichts Maßgebliches geändert.

Diesen Wiener Neustädter Diskoschritt hätte ich vor der Rücken-OP nicht derpackt
Diesen Wiener Neustädter Diskoschritt hätte ich vor der Rücken-OP nicht derpackt
Helmut Graf

Aber die Bilder sollten Dynamik vermitteln, Energie ausstrahlen, Fitness veranschaulichen. Stocker wirkte gesundet, er füllt seinen Anzug wieder ganz gut aus und sein Anzug ihn. Ich hätte ihn auf dem roten Teppich noch ein paar Flick-Flacks machen lassen, das hätte den Eindruck abgerundet.

Der Kanzler gab auch eine Pressekonferenz, in der er verriet, was er demnächst so plant. Er nannte die "vier drängendsten Aufgaben, die wir jetzt angehen". Nichts davon war neu, die Regierung hatte schon die vergangenen Wochen und Monate damit zugebracht, Appelle an sich selbst zu richten.

Nun will der Kanzler die Reformpartnerschaft und den Stabilitätspakt und die Energiepreise und die Entbürokratisierung anpacken. Kalte Begriffe, die das Herz erwärmen sollen.

Aber etwas anderes war neu, der Kanzler selbst nämlich, sein Auftreten. Stocker wirkte, als hätte er vorher ein paar Proteinriegel zu sich genommen. Er verlautbarte seine Vorhaben nicht, er bellte sie heraus, es fehlte nur ein Knurren als Untermalung. Stocker nagelte seine vier Ladenhüter in den Raum wie Martin Luther seine 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche.

Grüß Gott, darf ich Meloni zu Ihnen sagen? Ihr Österreicher schickt's auch dauernd neue Leute
Grüß Gott, darf ich Meloni zu Ihnen sagen? Ihr Österreicher schickt's auch dauernd neue Leute
Bundeskanzleramt

Am Ende sagte er: "Ich will und ich erwarte mir, dass wir in diesen zentralen Fragen konkrete Fortschritte erzielen". Es war wieder ein Appell an sich selbst, aber er kam diesmal als Drohung daher. Der Kanzler schien die Geduld verloren zu haben, auch mit sich selbst.

Vor Kurzem saß ich in einer "Runde der ChefredakteurInnen" auf ORF III. Wir redeten auch über das Energiewirtschaftsgesetz, das unter dem Titel "Billigstromgesetz" medial verramscht wird. Es fehle nur noch, witzelte ich, dass ähnlich wie bei der Bildung oder der Zusammenlegung der Kassen von einer Energiemilliarde geredet werde.

In seiner Pressekonferenz kündigte der Martin Luther vom Ballhausplatz dann tatsächlich an, eine halbe Milliarde "budgetneutral" von einem Eck ins andere schieben zu wollen. Zusammen mit der anderen halben Milliarde, die man schon davor "budgetneutral" ins selbe Eck geschoben hatte, sollen nun die Energiepreise gesenkt werden.

"Damit geben wir den Österreicherinnen und Österreicher insgesamt eine Milliarde zurück", sagte der Kanzler und ich hatte schon wieder Tränen in den Augen. Kann man in diesem Land keinen Witz mehr machen, ohne dass ihn jemand als Handlungsauftrag versteht?

In der nächsten Woche wird es für die Dreier-Koalition witzlos ernst. Die Regierung hat den Start in den Herbst vermurkst, dann panisch mit der Verkündung von unausgegorenen Vorhaben um sich geworfen. Nun wird sich zeigen, ob das Soufflé doch noch aufgeht oder in sich zusammenfällt.

Es sind entscheidende Tage. Gelingt der Koalition beim Thema "Entbürokratisierung" und "Deregulierung" ein Überraschungsmenü, dann darf sie das als Neustart interpretieren. Wenn sie scheitert, fliegen in der Küche die Töpfe in die Luft.

Am Mittwoch wird Christian Luther Stocker bekanntgeben, wie sich der Staat verschlanken will. Es ist noch nicht ganz klar, wer an seiner Seite steht, Deregulierungs-Staatssekretär Sepp Schellhorn mit hoher Wahrscheinlichkeit, Wirtschaftsminister Wolfgang Hattmansdorfer mit mittlerer Wahrscheinlichkeit. Wer von der SPÖ kommt, wird sich weisen.

In den vergangenen Tagen wurde intensiv an einem finalen Papier gearbeitet, auch an diesem Wochenende. Um einem Ziel näher zu kommen, wurde etwas ausgemottet, was bei den Koalitionsverhandlungen gute Dienste geleistet hatte: die Ampel.

Die halbe Milliarde für die Energie finde ich locker, ich verkaufe einfach den Schinken da hinter mir
Die halbe Milliarde für die Energie finde ich locker, ich verkaufe einfach den Schinken da hinter mir
Helmut Graf

Zunächst aber warfen ÖVP, SPÖ und NEOS ihre Vorschläge in einen Topf. Hunderte Ideen kamen zusammen, wie viele genau lässt sich schwer sagen, denn es gab viele Überschneidungen. Allein Volkspartei und NEOS brachten über 100 wesensgleiche Vorschläge ein.

Wie bei den Regierungsverhandlungen wurde daraus ein Dokument erstellt. Ampelfarben sollten zeigen, wie weit Einigung über jedes einzelne Vorhaben besteht. Rot hieß, mindestens eine Partei hat ein Veto eingelegt, Grün, die Idee wurde durchgewunken. Orange bedeutete irgendwas dazwischen.

"In einem ersten Schritt" versprach der Kanzler in seiner Comeback-Pressekonferenz, "100 Regelungen und Vorschriften abzuschaffen". Das war konservativ geschätzt. Denn mit Stand Samstag waren schon 130 Vorhaben auf Grün gestellt.

Der Aktionsplan "Deregulierung" hat drei Kapitel, "Bürger, "Vereine und Verwaltung" und "Wirtschaft". Was am Mittwoch hergezeigt werden soll, ist nur der erste Schwung. 600 weitere Vorhaben sind in der Pipeline.

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Man darf sich "Deregulierung" nicht wie das Herumreißen des Steuers eines Ozeandampfers vorstellen, es geht eher um das Drehen von vielen kleinen Rädchen, um im Alltag Ballast loszuwerden. Die Vorhaben, die verhandelt wurden, zeigen das. Ein paar Beispiele:

Die Doppelprüfungen bei Brandmeldeanlagen sollen gestrichen werden, bürokratische Hürden bei der Erlangung von Kinderpässen fallen. In Unternehmen soll nicht mehr wie jetzt der Kollektivvertrag physisch aufliegen müssen. Die Feuerwehr braucht keinen Antrag mehr zu stellen, wenn sie für Übungen Wasser aus einem Teich entnimmt.

Versicherungen soll man elektronisch abschließen können und nicht anschließend auch noch am Papier unterschreiben müssen, das per Post zugestellt wird. Bei Gütertransporten muss in Hinkunft nicht mehr die beglaubigte Abschrift der Konzessionsurkunde mitgeführt werden, um einer Strafe zu entgehen.

Das interne Punktesystem mancher Arbeitsinspektorate soll wegfallen. Es legt fest, dass es pro Prüfung im Schnitt mindestens 1,8 Beanstandungen geben muss, sonst kann keine Gebühr verrechnet werden.

Der ist ganz schön groß geworden über den Sommer
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Helmut Graf

Wie komplex manche Vorhaben sind, lässt sich buchstäblich an einer Scheibe festmachen. Die Regierung plant, das Intervall der Pickerl-Untersuchung zu verlängern. Bisher gilt die Regel 3-2-1, neue Autos müssen erst drei Jahre nach dem Kauf, dann nach weiteren zwei Jahren, schließlich jedes Jahr zur §57a-Begutachtung.

In Zukunft sollen Fahrzeuge nur mehr alle zwei Jahre überprüft werden. In trockenen Tüchern ist das noch nicht, denn es geht um einiges an Geld.

In Österreich sind rund 7,4 Millionen Fahrzeuge anmeldet. Vor allem die Zahl der Personenkraftwagen ist in den vergangenen Jahrzehnten kräftig gestiegen. 1990 kurvten noch 3 Millionen PKW herum, 2014 waren es 4,7 Millionen, im vergangenen Jahr schon 5,3 Millionen. In 34 Jahren hat die Menge der Autos also um rund 75 Prozent zugenommen.

Die Fahrzeuge werden aber nicht nur mehr, sondern auch älter. Im Schnitt haben die PKW, die auf Österreichs Straßen unterwegs sind, schon 10,1 Jahre auf dem Buckel und das hat konkrete Konsequenzen für ein Vorhaben der Regierung. Ältere Autos müssen häufiger zum Pickerltest. Für Werkstätten sind sie ein gutes Geschäft.

Es lässt sich nur ungefähr errechnen, wie viele Autos jährlich ein Pickerl brauchen. Aber zieht man vom Gesamtstand alle PKW ab, die aufgrund ihres Alters noch verschont sind, dann bleiben ungefähr 4,3 Millionen übrig.

Die Arbeiterkammer Wien hat erhoben, dass für §57a-Begutachtungen im Schnitt 92 Euro verlangt werden. Wir reden also von fast 400 Millionen Euro Umsatz, der zur Disposition steht.

Der fällt natürlich nicht komplett weg, aber: Wenn zum Beispiel der Auto-Geburtsjahrgang 2019 ein Jahr lang nicht zum Pickerl muss, dann fehlt den Werkstätten der Blickkontakt zu 329.803 Autos. Oder 30 Millionen Euro in der Kassa.

Es hat schon Regierungen gegeben, die sind für weniger dereguliert worden.

Ich wünsche einen wunderbaren Sonntag. Bis in einer kleinen Weile.

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